Fachkommentar zu Fall des Monats 04/2020 KH-CIRS-Netz Deutschland Drucken
03.04.2020
Krankenhaus-CIRS-Netz Deutschland: Fall des Monats „April 2020“: „Thrombozytenkonzentrat beim falschem Patienten verabreicht“

Fachkommentar des Fachbeirats CIRSmedical.de (BDA/DGAI)

Download Fachkommentar Fall-Nr. 208518 (PDF)

Autor: Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft für klinische Hämotherapie (IAKH) in Vertretung des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten (BDA) und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie & Intensivmedizin (DGAI)


Offensichtlich ist in dieser Einrichtung die Transfusion eine seltene Therapie, wobei verwunderlich ist, dass dann ausgerechnet 2 verschiedene Blutprodukte zeitgleich zur Auslieferung anstehen. Bei dieser Verwechslung des Präparates bei einem Patienten mit Gerinnungsstörungen sind mehrere problematische und verbesserungswürdige Elemente festzustellen:

  • Die Auslieferung eines Blutprodukts mit besonderen Lagerungs- und Transportbedingungen wird auf die falsche Station geliefert. Mögliche Ursachen betreffen Transportdienst und Versandorganisation der Blutbank/-depot. Die Anforderungen für Transport und Lagerung der Blutprodukte sind in der Hämotherapierichtlinie [1] geregelt. Die Ausgabebedingungen eines Blutprodukts in dieser Einrichtung scheinen dem Blutdepot nicht die Informationen bereitzustellen, die es bei Abholung gegenchecken sollte: Anforderer, Indikation, betroffenes Blutprodukt, Dringlichkeitsstatus und Patienten-ID.Weder der Arzt noch das Pflegeteam bemerkt den offensichtlichen Unterschied von Frischplasma und Thrombozytenkonzentrat nicht. Eine Ähnlichkeit ist zugegebenermaßen vorhanden, aber die Etikettierung müsste gelesen werden (siehe Abbildung).
  • Das Pflegeteam sticht ohne Kontrolle der Begleitscheine und des vorgesehenen Empfängers das Produkt mit einem Infusions-/Transfusionssystem an. Sonst wäre aufgefallen, dass der vorgesehene Empfänger nicht auf der Station liegt. Offenbar gibt es keine besondere Verfahrensanweisung für die Vorbereitung von Blutprodukten.
  • Die Transfusionen sind offensichtlich eine sehr seltene Angelegenheit, da sich scheinbar selbst der Arzt so wenig auskennt. Schulungen und praktisches Training scheinen in der Einrichtung wenig stattzufinden. Die IAKH hat in einem offenen Brief schon vor Jahren gefordert, die theoretischen und praktischen Inhalte der Transfusionsmedizin im Medizinstudium zu stärken [2]. Es ist in diesem Fall fraglich, ob das Thrombozytenkonzentrat agitiert transportiert und gelagert sowie überhaupt das richtige Transfusionssystem verwendet wurde.
  • Der die Indikation stellende Arzt ist nicht identisch mit dem die Transfusion ausführenden Arzt. Das muss auch nicht sein, aber die Delegation oder kollegiale Zusammenarbeit erfordert eine zuverlässige Informationsweitergabe, die hier offensichtlich nicht stattgefunden hat. (siehe SBAR – Konzept der DGAI [3])
  • Der für die Transfusion zuständige Arzt hat weder das Blutpräparat geprüft noch die Patientenidentität mit dem auf dem Begleitschein angegebenen Empfänger des Thrombozytenkonzentrates abgeglichen. Dieses Versäumnis hätte den Patienten das Leben und den Arzt seine Karriere kosten können, da er der eigentlich verantwortliche Arzt ist. Eine Nachschulung des einzelnen Arztes ist wohl kaum ausreichend, da das gesamte Team erhebliche Mängel an Erfahrung in diesem Gebiet zu haben scheint. (siehe IAKH Checkliste für die Vorgehensweise bei der Verabreichung einer Transfusion [4] oder die Hilfestellung zur Erstellung einer Verfahrensanweisung von der BÄK [5])
  • Die Dosis der Frischplasmatransfusion von einer Einheit ist zur Korrektur von relevanten Gerinnungsstörungen fehldosiert. Die Korrektur eines Faktorendefizits von 1% oder der Thromboplastinzeit (Quick) um 1% beträgt beim Erwachsenen 1 ml FFP/kg Körpergewicht. Für einen 80kg schweren Erwachsenen beträgt die Gerinnungskorrektur von 250ml FFP etwas über 3%. Die in diesem Fall transfundierte Dosis ist praktisch ohne Effekt. Eine hämostaseologische Beratung scheint nicht zu existieren.
  • Bei jeder Verwechslung wird ein zweiter Patient gefährdet für den das fälschlicherweise verwendete Blutprodukt vorgesehen war. Die Verzögerung der Transfusion von Thrombozyten bei einem blutenden Patienten kann unter Umständen dessen Leben gefährden. Das in diesem Fall anstatt FFP transfundierte TK muss nun für den Patienten, für den es eigentlich vorgesehen war, neu bestellt, neu beschafft und geliefert, eventuell HLA-gematcht werden, was die Versorgung unter Umständen um lange Stunden bis Tagen verzögern kann. Die Blutbank sollte deshalb unverzüglich informiert werden. Außerdem muss nach den Vorgaben der Richtlinie [1] der Transfusionsbeauftragte oder der in der Verfahrensanweisung Transfusionsmedizin benannte Verantwortliche informiert werden.
  • Es empfiehlt sich, diesen Fall in einer M&M-Konferenz mit allen Beteiligten unter Federführung des Transfusionsverantwortlichen, aber ohne Schuldzuweisung zu besprechen.
Empfehlung zur Vermeidung (hilfreich könnten sein: Veränderung der Prozess- und Strukturqualität mittels Einführung/Erstellung/Beachtung der vorgeschlagenen Maßnahmen):

Prozessqualität:
  1. Fortbildungsserie Ärzte, Laborpersonal, Blutdepot/Apotheke, Pflege: Blutprodukte- ein besonderes Arzneimittel: Herstellung, Verordnung, Indikationen, Lagerungs- und Transportbedingungen, Verabreichung gemäß Richtlinie Hämotherapie 2017
  2. SOP/Verfahrensanweisung Labor: Auslieferung/Ausgabe der Blutprodukte. Anforderungen an die Verordnungsdokumente und Transportpersonal. Abgleich der Empfängerdaten
  3. Fortbildung und SOP/Verfahrensanweisung Pflege: Vorbereitung und Abgleich der Begleitscheine von zellulären Blutprodukten (Erythrozyten-, Thrombozytenkonzentrat)
  4. Übung der standardisierten Übergabe und Informationsweitergabe unter den Ärzten/Pflege (SBAR-Konzept)
  5. SOP/Verfahrensanweisung: Korrektes Vorgehen bei der Verabreichung von Blutprodukten
  6. Fortbildung Ärzte: Indikationsstellung, Diagnostik und Dosierung von Gerinnungspräparaten bei den häufigsten klinischen Gerinnungsstörungen
  7. SOP/Verfahrensanweisung Ärzte: korrektes Vorgehen und Meldung einer Blutprodukteverwechslung
  8. Abhalten einer M&M-Konferenz zum Fall
  9. Meldung an die Transfusionskommission
Strukturqualität:
  1. Einrichtung einer regelmäßigen Fortbildung Transfusionsmedizin/Hämotherapie für Ärzt/innen, Laborpersonal und Krankenpflege, auch wenn oder gerade weil in dieser Einrichtung die Bluttransfusion eine selten benötigte Therapie zu sein scheint. Dokumentation der Teilnehmer durch CME/CNE-Zertifizierung
  2. Einführung einer elektronischen Anforderungslogistik, Verordnung mit Angabe von Indikation und Empfänger Vernetzung mit dem KIS und Dokumentation der stattgefundenen Verabreichung im KIS, eventuell auch hinterlegt mit dem "Decision Support System" [6], einem Software-Dialog, das die Richtlinien-konforme Indikation und korrekte Dosis sicherstellt
  3. Praktische Übungen der Medikamenten- und Blutprodukte-Verabreichung, Buchung des Simulationsworkshops der IAKH zum Teamtraining [7]
  4. Einrichtung eines hämostaseologischen Konsils oder einer Infrastruktur zur Kooperation mit einer hämostaseologischen Beratung (niedergelassene externe oder interne Kontakt und Anfragemöglichkeit)
  5. Etablierung einer M&M-Konferenz Systematik in dieser Einrichtung
  6. Kontrolle des Qualitätshandbuches Transfusionsmedizin, ob alle Verfahrensanweisungen und SOPs, die diesen Fall betreffen enthalten sind
  7. Blutspendedienste: Deutlichere Markierung der Aufschrift "Thrombozytenkonzentrat" und Beseitigung der Ähnlichkeit zum FFP (siehe Abbildung)
Literatur:
  1. Bundesärztekammer (BÄK). Richtlinie zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (Richtlinie Hämotherapie): Gesamtnovelle 2017. 2017 [cited: 2020-03-20]. www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/MuE/Richtlinie_Haemotherapie_E_A_2019.pdf.
  2. Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft für Klinische Hämotherapie (IAKH). Offener Brief der IAKH zum Studium der Hämotherapie. 2016 [cited: 2020-03-20]. www.iakh.de/haemotherapie-ausbildung-iakh-2017.html.
  3. von Dossow V, Zwißler B. Strukturierte Patientenübergabe in der perioperativen Phase – Das SBAR-Konzept: Beschluss des Engeren Präsidiums der DGAI vom 09.11.2015. Anesth Intensivmed 2016; 57:88–90. www.bda.de/files/Februar_2016_-_Strukturierte_Patientenbergabe_in_der_perioperativen_Phase_-_Das_SBAR-Konzept.pdf.
  4. Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft für Klinische Hämotherapie (IAKH). Musterverfahrensanweisung zur korrekten Verabreichung von Blutprodukten und Blutkonserven - empfohlenes Vorgehen der IAKH [cited: 2020-03-20]. www.iakh.de/dl.php?file=handreichungen/Musterverfahrensanweisung%20Verabreichung%20Blutprodukte.docx.
  5. Bundesärztekammer (BÄK). Muster-Arbeitsanweisung zur Transfusion von Erythrozytenkonzentraten (EK) unter den besonderen Bedingungen des Abschnitts 1.6.2.1 b) ("Transfusion von EK – maximal 50 pro Jahr – ausschließlich durch den ärztlichen Leiter der Einrichtung") der Richtlinien zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (Hämotherapie). 2010 [cited: 2020-04-03]. www.aerztekammer-saarland.de/files/16242EB23D9/Muster-Arbeitsanweisung%20zur%20Transfusion%20von%20Erytrozytenkonzentraten.doc
  6. Kassakian SZ, Yackel TR, Deloughery T, et al. Clinical Decision Support Reduces Overuse of Red Blood Cell Transfusions: Interrupted Time Series Analysis. Am J Med 2016; 129(6):636.e13-20. DOI: 10.1016/j.amjmed.2016.01.024. www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26873112.
  7. Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft für Klinische Hämotherapie (IAKH). Hämotherapie-Simulations und Praxistraining der IAKH [cited: 2020-03-20]. www.iakh.de/ag-haemotherapie-ausbildung-ii-simulation.html.
Abbildung " Vergleich FFP und TK"

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