Fall des Monats Juli 2013 Drucken
19.08.2013

CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen

Kammerflimmern nach Toluidinblau

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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Kammerflimmern nach Toluidinblau

Wo ist das Ereignis eingetreten?
Krankenhaus/OP

Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag

Versorgungsart:
Routinebetrieb

ASA-Klassifizierung:
ASA II

Patientenzustand:
keine kardialen Vorerkrankungen


Fallbeschreibung:
Während einer Operation mit unauffälligem Anästhesieverlauf wünscht der Operateur 200 mg Toluidinblau langsam i.v. zur Darstellung der Ureteren. 5 min. später entwickelt der Patient eine pulslose ventrikuläre Tachykardie. Sofortige mechanische Reanimation durch Operateur. Nach ca. 10 Sekunden wieder suffizienter Eigenrhythmus des Patienten. Im weiteren Verlauf polymorphe Herzrhythmusstörungen jedoch immer mit guten Blutdruckwerten ohne Katecholamine. Gabe von 250 mg Solu-Decortin, Cimetidin 200 mg, Dimetindenmaleat 4 mg i.v. Nach weiteren 15 min. Kammerflimmern. Sofortige externe Herzdruckmassage gefolgt von Defibrillation. Elektrolyte und Säurebasenhaushalt waren ausgeglichen. Die Operation wurde beendet. Der Patient zeigte 30 Minuten später keine weiteren Herzrhythmusstörungen. Erweiterte kardiale Diagnostik erbrachte keine Auffälligkeiten. Es wurde keine vermehrte MetHb-Bildung durch die Anwendung von Toluidinblau gefunden. Der weitere Verlauf war unauffällig.

 

Was war besonders gut?
- sehr schnelle Erfassung der Situation und sofortiger Beginn der Reanimation
- gute Kommunikation zwischen Chirurg und Anästhesisten

Häufigkeit des Ereignisses?
nur dieses Mal

Wer berichtet?
Ärztin / Arzt

Berufserfahrung:
über 5 Jahre

Die Analyse aus Sicht des Hygienikers und des Anästhesisten
Bei Toluidinblau (Toloniumchlorid) handelt es sich um einen Farbstoff, der bei histologischen Präparaten und bei Intravitalfärbungen eingesetzt wird. Für Anästhesisten bekannter ist Toluidinblau als Antidot bei Methämoglobinämie, welche z.B. nach der Gabe von großen Mengen Prilocain beobachtet werden kann [1]. Einzelne chirurgische Kollegen nutzen die Tatsache, dass der Farbstoff renal ausgeschieden wird und hierbei zu einer Blaufärbung der ableitenden Harnwege führt, um eine bessere Darstellung anatomischer Strukturen während eines operativen Eingriffs zu erreichen. Alternative Farbstoffe wie Methylenblau oder Indigocarmin sind in Deutschland nicht
mehr erhältlich.

Der zeitliche Zusammenhang zwischen der Gabe von Toluidinblau und den auftretenden Herzrhythmusstörungen lässt einen kausalen Bezug mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermuten. In der Tat ist die in dem Fall beschriebene Nebenwirkung typisch und bekannt. Bereits im Jahr 2008 hat die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) eine entsprechende Warnung herausgegeben [2] und diese im Jahr 2010 erneuert [3]. Bis 2010 waren 22 Meldungen in dem Spontanmeldesystem der AkdÄ eingegangen. In 13 Fällen war von erforderlichen Reanimationsbehandlungen berichtet worden. Bei den gemeldeten Fällen handelt es sich aber um einen typischen Fall von „Underreporting“, denn fast jeder Anästhesist kann sich an einen Fall erinnern, den er eventuell selber erlebt hat oder aber der ihm berichtet wurde. In meiner Klinik waren es zwei. Auf Grund der möglichen schwerwiegenden Nebenwirkungen von Toluidinblau empfiehlt die AkdÄ, die Risiken einer Anwendung sehr sorgfältig gegen den Nutzen abzuwägen. Bei der intravenösen Gabe sollten alle für eine Reanimation erforderlichen Medikamente und Apparaturen griffbereit sein. Die einzelnen Aspekte dieses Falls bedürfen separater Betrachtung:
  • Gabe eines Medikamentes auf Wunsch des Operateurs
Es kommt immer wieder vor, dass Anästhesisten auf Wunsch eines Operateurs ein Medikament verabreichen sollen. Beispiele wären Gaben von Antibiotika zur perioperativen Prophylaxe, Diuretika zur Entwässerung, Butylscopolamin zur Hemmung der Peristaltik, Heparin/Protamin zur Gerinnungstherapie oder aber eben Toluidinblau zur Darstellung der ableitenden Harnwege. Grundsätzlich gilt: Derjenige, der das Medikament appliziert, muss die damit evtl. verbundenen Komplikationen beherrschen können. Das bedeutet auch, dass er die Wirkungen und Nebenwirkungen und entsprechende Kontraindikationen der Substanzen, die gegeben werden, kennen muss. Ein Vermerk in der Akte oder auf dem Anästhesieprotokoll "Gabe auf Wunsch des Operateurs" entbindet von dieser Verantwortung nicht – unbeschadet der fachlichen und rechtlichen Verantwortung des Operateurs für die Indikationsstellung (Abwägung von Nutzen und Risiken). In dem konkreten Fall waren dem Anästhesisten die möglichen Gefahren einer intravenösen Gabe von Toluidin anscheinend nicht bekannt. Warnungen der AkdÄ werden stets veröffentlicht und erscheinen im Deutschen Ärzteblatt, welches jeder Arzt erhält. Zusätzlich werden regelmäßig Rote-Hand Briefe veröffentlicht, die jeder Arzt kennen muss.
  • Off-label-use
Unter einem Off-label-use wird die Anwendung eines Arzneimittels außerhalb seiner Zulassung verstanden. Geschätzt wird, dass ca. 20% aller gegebenen Medikamente "Off-label" verabreicht werden (in der Onkologie bis zu 60%). Rechtlich ist es sogar so, dass man verpflichtet ist ein Arzneimittel Off-label einzusetzen, wenn eine begründete Aussicht auf Erfolg besteht und keinzugelassenes Medikament verfügbar ist [4]. Es handelt sich dann um keinen Behandlungsfehler. Toluidinblau ist für die verwendete Indikation nicht zugelassen und es handelt sich somit um einen Off-label-use. Für den Anwender besteht vor einem Off-label-use eine gesteigerte Aufklärungspflicht.
Der Patient muss über Unsicherheiten der Wirksamkeit und der Sicherheit der Therapie informiert werden. Zusätzlich muss er über Therapiealternativen aufklären und darauf hinweisen, dass es entweder keine zugelassenen Alternativen gibt oder aber, dass er trotz Alternativen einen Off-label-use empfiehlt. Dass muss natürlich begründet werden [4].

In dem Fall wird nicht erwähnt, ob im Vorfeld eine Aufklärung erfolgt war und der Patient seine Einwilligung gegeben hatte. Derjenige, der das Medikament verabreicht, muss sich aber vergewissern, dass eine Aufklärung durchgeführt worden ist. Erfolgt z.B. die Gabe von Toluidinblau mit einer gewissen Regel- und Gesetzmäßigkeit, muss unbedingt gemeinsam mit der chirurgischen Abteilung festgelegt werden, dass die Patienten aufgeklärt werden und diese Aufklärung dokumentiert wird.
  • Alternativen zu Toluidinblau
Wie bereits oben erwähnt, sind andere Farbstoffe in Deutschland nicht erhältlich. Trotzdem bestehen Alternativen zur i.v.-Gabe von Toluidinblau. Zu nennen wäre z.B. eine retrograde Darstellung der ableitenden Harnwege mit Methylenblau. Diese kann auch intraoperativ erfolgen, ist aber unter Umständen mit etwas Aufwand verbunden. Eine andere Möglichkeit ist das präoperative Einbringen einer Ureterschiene durch einen Urologen. Kurz gefasst: Eine intravenöse Toluidinblau-Gabe ist nicht alternativlos, weshalb dessen Gabe zumindest sehr kritisch gesehen werden muss.
  • Meldung von unerwünschten Nebenwirkungen
Jedes Medikament hat Nebenwirkungen. Manche werden erst entdeckt, nachdem es bereits viele Jahre auf dem Markt war. Die AkdÄ bietet ein einfaches Online-Meldeformular an, welches alle Ärzte nutzen sollten, um seltene, neue und schwerwiegende Nebenwirkungen zu melden [5].
 
Die Analyse aus Sicht des Juristen
Aus dem Sachverhalt geht es zwar nicht eindeutig hervor, aber es steht zu vermuten, dass der Anästhesist auf Wunsch des Operateurs das Toluidinblau verabreichte. Grundsätzlich fällt die Gabe eines Kontrastmittels zur besseren Darstellung des Operationsgebietes in den Aufgaben und Verantwortungsbereich des Operateurs. Das schließt nicht aus, dass der Anästhesist auf Wunsch des Operateurs kollegialiter die Durchführung der erbetenen Maßnahme übernimmt; "anweisen" dazu kann ihn der Operateur allerdings nicht. Erklärt sich der Anästhesist zu dieser Hilfeleistung bereit, dann gelten im Verhältnis zwischen ihm und dem Operateur ähnliche Grundsätze, wie sie etwa bei der Delegation von Leistungen gelten: Die "Anordnungsverantwortung" bleibt beim Operateur, die (technische) "Durchführungsverantwortung" liegt beim Anästhesisten. So hat insbesondere der Operateur zu entscheiden, ob und zu welchem Zeitpunkt die Gabe von Toluidinblau indiziert ist, er hat in diesem Rahmen auch die entsprechende Nutzen-Risko-Abwägung zu treffen und diese fachlich und rechtlich zu verantworten. Nur dann, wenn der Anästhesist
erkennen kann oder nach seinen Kenntnissen und Fertigkeiten erkennen musste, dass die "Anordnung" des Operateurs fehlerhaft ist, sind die Grenzen des Vertrauensgrundsatzes erreicht. Drängen sich also dem Anästhesisten Kontraindikationen gegen die Durchführung der erbetenen Maßnahme auf, hat er den Operateur darauf hinzuweisen. Der Operateur muss die ihm vom Anästhesisten mitgeteilten Bedenken abwägen. Es gilt hier nichts anderes, als bei sonstigen Meinungsverschiedenheiten zwischen Anästhesist und Operateur [6]: Der Anästhesist trägt Kontraindikationen aus seiner Sicht vor, der Operateur hat diese abzuwägen. Ist die daraufhin getroffene Entscheidung
des Operateurs für den Anästhesisten plausibel, wird er die Maßnahme "im Auftrag"/auf Wunsch des Operateurs vornehmen. Drängen sich ihm nach wie vor Bedenken auf, kann nur empfohlen werden, dass der Anästhesist die Durchführung der Maßnahme ablehnt – er mag die Injektion/Infusion dann vorbereiten – und die Durchführung dem Operateur überlässt.

Zur Aufklärung: Da jeder Fachvertreter den Patienten über die Maßnahmen aufzuklären hat, die in sein Fachgebiet fallen, ist der Operateur bezüglich des Kontrastmittelverfahrens aufklärungspflichtig. Der Anästhesist wird die erbetene Durchführung der Maßnahme nur dann vornehmen, wenn er sicher sein kann, dass eine wirksame Einwilligung des Patienten (in der Regel nach entsprechender, rechtzeitiger Aufklärung) vorliegt.

Zur Frage des Off-Label-Use: Im Rahmen der Methoden-, Therapie- und Versuchsfreiheit ist der Arzt bei der Anwendung eines Arzneimittels nicht an die arzneimittelrechtliche Zulassung gebunden. Der Einsatz von Medikamenten, die für eine bestimmte Behandlung/bestimmte Erkrankung in Deutschland nicht – oder noch nicht – zugelassen sind, ist nicht verboten. Wie der Bundesgerichtshof festgestellt hat [7] ist ein derartiger Off-Label-Use nicht anders als die Anwendung sonstiger neuer Behandlungsmethoden [8] zulässig, vorausgesetzt, die Vor- und Nachteile des nicht zugelassenen Präparates/der neuen Methode im Vergleich mit zugelassenen Substanzen/hergebrachten Methoden ergibt, dass die Anwendung medizinisch zumindest vertretbar und begründet erscheint. Eine Grenze der ärztlichen Methoden-, Therapie- und Versuchsfreiheit ergibt sich indes aus § 5 Abs. 1 Arzneimittelgesetz. Danach ist es nicht nur verboten, bedenkliche Arzneimittel in den Verkehr zu bringen, sondern auch, sie bei einem anderen Menschen anzuwenden. Diese Alternative betrifft auch den Arzt. Bedenklich sind nach § 5 Abs. 2 Arzneimittelgesetz Arzneimittel, bei denen nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der begründete Verdacht besteht, dass sie bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen haben, die überein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen.

Wie oben dargelegt, hat diese Abwägung in erster Linie der Chirurg zu treffen, der Anästhesist wird remonstrieren, wenn sich ihm Bedenken gegen die Entscheidung des Operateurs aufdrängen oder aufdrängen müssten.

Soweit der Off-Label-Use nach dem Dargestellten unbedenklich ist, bleibt immer noch die vom Bundesgerichtshof [9] festgestellte Verpflichtung, den Patienten über die Tatsache des Off-Label-Use – und damit verbunden dem Fehlen eines „Gütesiegels“ – im Rahmen der Aufklärung zu informieren. Die Aufklärungspflicht hat derjenige zu erfüllen, in dessen Aufgaben- und Verantwortungsbereich die zu treffende Maßnahme fällt – hier also der Operateur.

 

Take-Home-Message

  • Die Gabe eines Medikamentes "auf Wunsch des Operateurs" entbindet den applizierenden Arzt nicht von der Haftung.
  • Ein Kreislaufstillstand nach Toluidinblau ist eine seltene aber typische Nebenwirkung. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft warnt deshalb vor der intravenösen Anwendung von Toluidinblau.
  • Bei der Gabe von Toluidinblau zur Darstellung der ableitenden Harnwege handelt es sich um einen Off-label-use, über den die Patienten im Vorfeld aufgeklärt werden müssen.
  • Wird ein Off-label-use mit einer gewissen Regel- und Gesetzmäßigkeit durchgeführt sollte abteilungsübergreifend die Aufklärung festgelegt werden.
  • Ärzte müssen auch über seltene Nebenwirkungen informiert sein und sind verpflichtet, die entsprechenden Publikationen zu kennen.
  • Neue und schwerwiegende Arzneimittelnebenwirkungen sollten der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft gemeldet werden. Dies ist online möglich.


Weiterführende Literatur:
[1] Radke OC, Hoffmann C, Klut I, Koch T. Kammerflimmern nach Toluidinblau – Axilläre Plexusanästhesie führte zum Kreislaufstillstand. Anaesthesist 2011;60:446-50
[2] Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: "Aus der UAW-Datenbank" Schwerwiegende Kreislaufreaktionen nach intravenöser Gabe von Toluidinblau zur Darstellung der ableitenden Harnwege. DtschArztebl 2008; 105: A-1570
[3] Lebensbedrohliche Kreislaufreaktionen auf Toluidinblau. DtschArztebl 2010; 107: A-1496
[4] Koyuncu A. Arzneimittelversorgung im Off-label-use - der rechtliche Rahmen. DtschMedWochenschr 2012; 137: 1519-23
[6] siehe hierzu Ziff. 1.1 der Vereinbarung über die Zusammenarbeit bei der operativen Patientenversorgung des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten und des Berufsverbandes Deutscher Chirurgen http://www.bda.de/eev/EEV_2011_S_9-12.pdf
[7] BGH, NJW 2007, 2767
[8] siehe etwa Robodoc-Fall des BGH, NJW 2006, 2477
[9] Surgibone-Urteil BGH, MedR 1996, 22 (23)

Autoren:
Prof. Dr. med. M. Hübler, Universitätsklinik Carl Gustav Carus Dresden
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dr. med. M. St.Pierre, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Prof. Dr. med. W. Heinrichs, AQAI GmbH, Mainz

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