Fall des Monats Mai 2015 Drucken
29.06.2015

CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen

Versorgung von Verletzten nach einem Verkehrsunfall


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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Versorgung von Verletzten nach einem Verkehrsunfall
 
Zuständiges Fachgebiet:
Notfallmedizin
 
Wo ist das Ereignis eingetreten?
Notarztdienst

Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag

Versorgungsart:
Notfall

Patientenzustand:
Verkehrsunfall, zwei Unfallfahrzeuge mit massiver Beschädigung, bei Eintreffen des Rettungsdienstes (NEF und RTW zeitgleich) stehen die zwei Betroffenen auf der Straße

Fallbeschreibung:
Die zwei Patienten laufen verwirrt an der Unfallstelle herum. Sie haben kleine Schnittwunden im Bereich des Gesichtes. Patient A wird in den RTW gebracht. Ein zweiter RTW wird nachgefordert. Patient A erhält eine Zervikalstütze. Ein Rettungsassistent macht den Vorschlag, den Patienten B übergangsweise ins NEF zu setzen und diesen durch den NEF-Assistenten betreuen zu lassen. Dies wird abgelehnt.
Der Patient A wird im RTW durch den Notarzt untersucht. Auf Vorschlag der RTW-Besatzung wird der Patient auf der Vakuummatratze gelagert. Es wird ein peripher-venöser Zugang gelegt und 500 ml kristalloide Infusion zum Offenhalten angeschlossen. Es wird der Vorschlag gemacht, den Patienten A aufgrund des Unfallmechanismus unter Voranmeldung in einen Schockraum zu fahren. Aufgrund der Beschwerdefreiheit lehnt der Notarzt dies ab. Patient A wird mit der Meldung "Z.n. VKU, Schockraum ohne Alarm" in die nahe gelegene Klinik gefahren. Nach ca. 30 Minuten, einer Sonographie des Abdomens und Wundversorgung wird er aus der Klinik entlassen.
Der Patient B wird inzwischen in dem mittlerweile eingetroffenen, zweiten RTW versorgt und von dem Notarzt untersucht. Er wird anschließend in eine ca. 35 Minuten Fahrtzeit entfernte Augenklinik gefahren. Der weitere Verlauf von Patient B entzieht sich der Kenntnis.

Was war besonders ungünstig?
Es gab bei diesem Einsatz ein Kommunikationsproblem:
Beide Patienten waren gehfähig und bis auf kleinere Schnittwunden nicht offensichtlich verletzt. Dies verleitete den Notarzt, die Gefahr eventueller Verletzungen durch den Unfallhergang zu unterschätzten. Es handelte sich um eine Art Confirmation Bias (Bestätigungsfehler). Dieser Fehler übertrug sich auf die Besatzung des zweiten RTW und auf den Arzt, welcher Patient A in der Klinik behandelte. Hinweise auf die Schockraumindikation gemäß DGU wurden bei der Versorgung der Patienten nicht berücksichtigt. Der Zustand der Unfallfahrzeuge ließ auf die eingewirkten Kräfte zurückschließen.
Warum die Hinweise nicht aufgenommen wurden, bleibt unklar. Evtl. waren die Leitlinien der DGU zur Traumaversorgung nicht bekannt.
Die Ablehnung, den Patienten B vorübergehend im NEF zu versorgen, ist unverständlich. Dieser lief zunächst weiter an der Unfallstelle umher und wurde nicht betreut oder untersucht. Auch bei Beschwerdefreiheit können durch derartige Kräftewirkung massive Verletzungen auftreten, die unter Umständen erst nach einer zeitlichen Latenz klinisch erkannt werden. Daher sollten bildgebende Verfahren genutzt werden.

Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?
Die Kommunikation des medizinischen Personals im Rettungsdienst muss besser geschult werden. Bestätigungsfehler zu erkennen ist schwierig. Sie zu kommunizieren noch schwieriger - insbesondere an hierarchisch Höhergestellte.
 
Häufigkeit des Ereignisses?
jeden Monat

Wer berichtet?
andere: Rettungsassistent

Berufserfahrung:
über 5 Jahre


Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Dieser Fall bezieht sich auf eine der vier Säulen des Fachgebiets, die Notfallmedizin. Die Notfallmedizin als zutiefst interdisziplinäres Gebiet der Medizin zeigt uns immer wieder, dass auch das Erfolgsrezept zeitkritischer notfallmedizinischer Maßnahmen das ausgewogene Produkt aus Hard- und Soft-Skills ist: Performance = Skills x Behavior.
 
Sowohl für die Hard-Skills als auch für die Soft-Skills besteht für diesen Fall eine abgrenzbare Ebene. Um den Fall aufzubereiten, sollen zunächst die wesentlichen Entscheidungspunkte dieses Notarzteinsatzes bei einem schweren Verkehrsunfalles chronologisch geordnet betrachtet werden, um in der Folge die Kommunikationsebene zu beleuchten.
 
Lagefeststellung
Nach Eintreffen des Rettungsdiensts besteht die erste Lage für den Melder in zwei massiv beschädigten Fahrzeugen und zwei verwirrt umherlaufenden Verletzten. Es ist ein NEF und ein RTW vor Ort. Noch reichen die Kräfte somit nur für eine überbrückende Versorgung aus, und es wird ein RTW nachgefordert.
 
Allerdings war allein die Ressource „Patiententrage“ in der ersten Einsatzphase objektiv zu knapp bemessen, die apparative und personelle Behandlungskapazität wäre vermutlich auch für zwei schwerer verletzte Patienten ausreichend gewesen.
 
Erste Entscheidung: Ressourcennutzung
Hier nimmt der Einsatz gleich eine ungünstige Wende: Obwohl beide Patienten ähnliche und gleichschwer anmutende Verletzungsmuster aufweisen, wird die Behandlungskapazität scheinbar willkürlich auf einen Patienten fokussiert. Wie dies passierte, bleibt unklar.
 
Zusätzlich entscheidet sich der Notarzt gegen den Vorschlag eines beteiligten RA zu einer überbrückenden Betreuung beider Patienten. Der nicht betreute Patient muss umherlaufend ausharren, bis der zweite RTW vor Ort ist. Es muss uns verborgen bleiben, was die Grundlage dieser Entscheidung war.
 
Zu der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Situation muss man keine wissenschaftliche Literatur wälzen: Es ist eine bestmögliche überbrückende Betreuung und Behandlung aller Verletzten zu fordern, auch wenn diese gehfähig sind. Ein Sitzplatz in einem NEF ist hierzu angebrachter als umherzulaufen. In Anbetracht der schweren Beschädigung der Fahrzeuge ist es sinnvoll, vorher klinisch eine schwere Wirbelsäulenverletzung auszuschließen, um eine folgende aufwändige technische Rettung aus dem NEF zu vermeiden.
 
Auf der Kommunikationsebene war hier vermutlich schon das Kind in den Brunnen gefallen, da eine nicht nachvollziehbare Entscheidung im Raum stand. Auf der Sachebene sind die Entscheidung und die Folge für den Patienten nicht zu vertreten. Dies wäre selbst dann der Fall gewesen, wenn der Notarzt die Verletzungsmuster der Patienten unterschiedlich schwer eingestuft hätte.
 
Zweite Entscheidung: Polytrauma, potentiell schwer verletzt oder nur Trauma?
Die folgende Einsatzphase mit initialer Versorgung nur eines Patienten ist in der Schilderung vom Wort „Vorschlag“ und „Hinweis“ geprägt. Die RTW-Besatzung versucht, die Versorgung in Richtung eines potentiell schwer verletzten Patienten zu beeinflussen, was nur teilweise gelingt. Für den Notarzt lag nur ein Trauma vor, für die RTW-Besatzung ein potentiell schwer verletzter Patient mit Schockraumindikation.
 
Eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Einschätzung des Patienten ist die – derzeit in Überarbeitung befindliche – S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletztenversorgung.
Der Melder und wohl auch das Team gingen interessanterweise davon aus, dass keiner der Patienten tatsächlich schwer verletzt war. Die erste Lage war jedoch, dass die Patienten „verwirrt“ (= GCS 14) umherliefen. Somit war der relevante Befund „schweres Schädel-Hirn-Trauma“ bei erhaltener Gehfähigkeit nicht auszuschließen. Dieses zu übersehen, stellt bei algorithmischen Vorsichtungsverfahren aus der START-Familie wohl eine stetige Gefahr dar ([2], hier: mSTaRT).
 
Die S3-Leitlinie Polytrauma gibt im Teil „Präklinik“ außer allgemeinen Angaben keinen Anhalt, wie ein Polytrauma, ein Schwerverletzter oder ein einfach traumatisierter Patient leicht voneinander zu unterscheiden sind. Das ist auch nicht wirklich notwendig:  Es gilt, die Patienten zu identifizieren, die von einer Schockraumbehandlung profitieren würden..
 
Ein „Verletzungskriterium“ zur Schockraumaktivierung war wohl bei beiden Patienten nicht gegeben:
 
„Bei folgenden Verletzungen soll das Trauma-/Schockraumteam aktiviert werden (GoR A):
 
  • systolischer Blutdruck unter 90 mmHg nach Trauma
  • Vorliegen von penetrierenden Verletzungen der Rumpf-Hals-Region
  • Vorliegen von Schussverletzungen der Rumpf-Hals-Region
  • GCS unter 9 nach Trauma
  • Atemstörungen /Intubationspflicht nach Trauma
  • Frakturen von mehr als 2 proximalen Knochen
  • instabiler Thorax
  • Beckenfrakturen
  • Amputationsverletzung proximal der Hände/Füße
  • Querschnittsverletzung
  • offene Schädelverletzungen
  • Verbrennungen > 20 % und Grad ≥ 2b“
 
Für eine Schockraumaktivierung soll weiterhin die Kinematik des Unfallhergangs beachtet werden („Kinematikkriterien“).
 
„Bei folgenden zusätzlichen Kriterien sollte das Trauma-/Schockraumteam aktiviert werden (GoR B):
 
  • Sturz aus über 3 Metern Höhe
  • Verkehrsunfall (VU) mit

- Frontalaufprall mit Intrusion von mehr als 50–75 cm

- einer Geschwindigkeitsveränderung von delta > 30 km/h

- Fußgänger- /Zweiradkollision

- Tod eines Insassen

- Ejektion eines Insassen“

 
Aus der Fallschilderung lässt sich leider nicht sicher ableiten, ob eines der Kinematikkriterien wirklich zutraf. In jedem Fall bestand Uneinigkeit über die Bewertung der Unfall-Kinematik. Da die Empfehlung zur Schockraumaktivierung aufgrund der Kinematik einen schwächeren Empfehlungsgrad hat, wäre es prinzipiell nach gründlicher Untersuchung des Patienten auch statthaft, keine Schockraumaktivierung durchzuführen. Trotzdem ist auch die kinematische Schockraumindikation eine Kernempfehlung. Ratsam ist der Verzicht auf den Schockraum somit nicht, da alle dort genannten Faktoren mit dem Risiko einer schweren Verletzung assoziiert sind. Auch wenn der Notarzt bei dieser Bewertung letztverantwortlich ist, sollte er versuchen, Bedenken des Teams mit aufzunehmen. Es gilt, im Zweifel immer den sichersten Weg für den Patienten zu wählen.
 
Dritte Entscheidung: Zielklinik, weitere Diagnostik und Therapie
Der sicherste Weg für den Patienten: immer der Schockraum? Nicht jeder Unfallverletzte kann in einem Schockraum diagnostiziert werden. Allein der damit verbundene Aufwand würde die Ressourcen der Notaufnahmen und der Schockraumteams überfordern – und das Verfahren „Schockraumversorgung“ entwerten. Dennoch muss jeder Patient, der dieses Verfahrens bedarf, den Weg in den Schockraum finden. Das Traumaregister der DGU sieht deshalb einen bis zu 50-prozentiger Anteil an Übertriage – d.h. Patienten ohne schwere Verletzungen – vor. Unabhängig davon sollte im Einzelfall der sicherste Weg für den Patienten gewählt werden, also im Zweifelsfall eine Schockraumdiagnostik gewählt werden.
 
Entscheidender noch ist die Auswahl der Zielklinik, die den Anforderungen durch einen potentiell Schwerverletzten gerecht werden muss und gewährleisten sollte, dass ein vital bedrohter Patient nur in Ausnahmefall sekundär verlegt werden muss. Bei zertifizierten Traumazentren ist die Schockraumversorgung gewährleistet, schwerverletzte Patienten sollen in ein Traumazentrum gebracht werden [1]. „Ist ein regionales oder überregionales Traumazentrum innerhalb einer vertretbaren Zeit nicht erreichbar (Empfehlung Weißbuch: 30 Minuten), so sollte eine näher gelegene Klinik angefahren werden, welche in der Lage ist, eine primäre Stabilisierung sowie lebensrettende Sofortoperationen durchzuführen“ ([1], [3]).
 
Im geschilderten Fall wurde ein uneinheitliches Verfahren für die Patienten gewählt, dass sich nicht ohne weiteres erschließt. Trotz ähnlicher Kinematik wurde ein Patient in eine zur akuten Traumaversorgung ungeeignete Behandlungseinrichtung verbracht: in eine Augenklinik. Der zweite Patient erhielt eine innerklinische „Schockraumversorgung light“.
 
Bei der klinischen Einschätzung über den Patientenzustand und die Entscheidung über die angemessene weitere Patientenversorgung hat der Notarzt den Stichentscheid, ist aber sicher nicht zum „Freestyle“ aufgerufen. Die S3-Leitlinie Polytrauma weist einen klaren Korridor, der nur mit einer guten Begründung verlassen werden sollte.
 
Kommunikationsebene
Der Melder beschreibt den „Confirmation bias“ als führendes Kommunikationsproblem. Aus Patientensicht war dies sicher entscheidend. Die notärztliche Ersteinschätzung – die nicht mit der rettungsdienstlichen Ersteinschätzung übereinstimmte – „stempelte“ die Patienten für die weitere Versorgung als Leichtverletzte ab.
 
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass das Team vom Notarzt nicht mitgenommen wurde. Die Entscheidungsfindung wirkt nicht transparent und ist mit den vorliegenden Fakten nicht nachvollziehbar. Man meint, dass der Notarzt immer den Stichentscheid einsetzen musste, um seine Entscheidungen durchzusetzen. Die Rettungsdienstmitarbeiter hatten jedoch durchaus gute Argumente, wenn sie sich auf die S3-Leitlinie Polytrauma bezogen.
 
In vital entscheidenderen Situationen ist das Eingreifen eines nachgeordneten Mitarbeiters manchmal lebensrettend, und im Unterschied zur Luftfahrt sind die Mitarbeiter im Rettungsdienst durch eine medizinische Fehleinschätzung in den meisten Fällen nicht mit gefährdet. Die Flight Crew havariert bei einem fliegerischen Fehler gemeinsam. Eine unmittelbar vital bedrohliche Situation lag hier glücklicherweise nicht vor, so dass auch eine nachdrückliches „Gegensteuern“ des Teams in dieser Einsatzsituation unterblieb.
 
Die Beschreibung lässt erkennen, dass der Einsatz sicher ein großes Maß an Frustration bei einigen Beteiligten hinterlassen hat, obwohl die Meldung sachlich und konstruktiv geschrieben ist. Dies sollte im Team ausgeräumt werden. Zu empfehlen ist eine ggf. moderierte konkrete Aufarbeitung, getrennt nach Sach- und Kommunikationsinhalten. Es wird glücklicherweise nur von unterschiedlichen Auffassungen, aber nicht vom Fehlen wertschätzender Kommunikation berichtet, so das hier möglicherweise Potential zur Aufarbeitung vorhanden ist.
 
Zusammenfassung
Was wäre das richtige Vorgehen gewesen? Statthaft ist die Frage nur „ex ante“. Deshalb lässt es sich mit den gegebenen Informationen nicht sicher feststellen. Festzuhalten ist, dass sowohl Zweifel auf der Seite der Hard-skills (Beachtung von Leitlinien und Entscheidungen) als auch bei den Soft-Skills (Transparente Entscheidungsfindung und Teambildung) angebracht sind. Das Produkt aus Hard- und Soft-skills war somit sicher nicht optimal.
 
Um Entscheidungskorridore besser zu standardisieren, wäre es beispielsweise denkbar, innerhalb der Zuständigkeit des Rettungsdienstträgers die Vorgehensweise zu vereinheitlichen und beispielsweise festzulegen, dass vorliegende Kinematikkriterien in der Regel zu einer Schockraumversorgung des Patienten führen. Begleitet von einem QM im Traumaregister können dann ggf. die Kriterien für die Aktivierung der Schockraumteams und die Verfahrensweisen an der Schnittstelle Schockraum speziell für Patienten mit Kinematikkriterium weiter definiert werden. Mit Spannung erwartet wird die Weiterentwicklung der S3-Leitlinie Polytrauma: Möglicherweise findet auch hier eine weitere Konkretisierung statt.


 
Die Analyse aus Sicht des Juristen
In der Falldarstellung wird zwar einerseits das Behandlungsregime des Notarztes negativ bewertet, doch gestaltet sie sich andererseits zu unbestimmt, um aus juristischer Sicht ein vorwerfbar fehlerhaftes Behandlungsagieren konstatieren zu können. Letztlich bleibt offen, auf welchen sachverhaltlichen bzw. befundlichen Grundlagen und nach welchen medizinischen Maßgaben der Notarzt seine Anordnungen mit welcher Beurteilungskompetenz getroffen hat. Es bildet im Übrigen oftmals ein Problem, wenn einem Arzt nachgeordnete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meinen, Gegenvorstellungen zu dessen Behandlungsentscheidungen äußern zu sollen. Dieses Dilemma kann praktisch nur aufgelöst werden, indem alle Beteiligten unvoreingenommen vernünftig, klar begründet und vertrauensvoll offen miteinander kommunizieren.
 
Vor diesem Hintergrund ist auf aus der Fachdarstellung nachvollziehbare Problemstellungen aus juristischer Sicht wie folgt zurückzukommen:
 
  • Im Ausgangspunkt bleibt zu veranschlagen, dass sowohl Patient A als auch Patient B durch das Notarzt- und Rettungsdienstteam eine ex-ante-betrachtet sorgfaltspflichtgerechte Behandlung zuteilwerden muss. Das heißt: Eine Behandlung gemäß einzuhaltendem medizinischem Standard. Dazu gehörte hier – im Sinne einer Triage – die sorgfaltspflichtgerechte Bestimmung, welchem von den beiden Patienten sich der Notarzt aufgrund entsprechender Auswahl im Weiteren eingehender widmen musste. Parallel hätte man Patient B (eventuell weiter gehend) unter – wie auch immer gearteter – möglichst gezielter Kontrolle halten müssen.
 
  • Der einzuhaltende „medizinische Standard“ – hier betreffend Patientenauswahl zur vordringlichen Behandlung, Befunderhebung, (Verdachts-)Diagnosestellung und Aufnahme (erst-)therapeutischer Behandlungsmaßnahmen – ist abstrakt-generell als der jeweilige Stand der (hier: notfall- bzw. rettungs-)medizinischen Wissenschaft, konkret als das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, allgemein anerkannte und für notwendig erachtete Verhalten umschrieben. Vorliegend galt es, dem/den Patienten eine entsprechende Behandlungsqualität (ärztlich im Sinne notfall- bzw. rettungsmedizinischer Facharztqualität) zu bieten.
 
  • Solcher „Standard“ ist günstigenfalls – und nicht notwendigerweise – z. B. in sogenannten Leitlinien beschrieben. Mithin vermögen Leitlinien medizinischen Standard deklaratorisch wiederzugeben, begründen diesen allerdings nicht konstitutiv. Im Falle strafrechtlicher Ermittlungen und/oder einer haftungsrechtlichen Auseinandersetzung obläge einem medizinischen Fachgutachter zu bewerten, ob vorliegend der gehörige notfall- bzw. rettungsmedizinische Standard ex-ante-betrachtet gewahrt wurde.
 
  • Die Falldarstellung verweist darauf, dass es gerade auch in der Notfall- und Rettungsmedizin darum gehen muss, eine potentielle Befundeskalation (z. B. das Eintreten von Reanimationspflichtigkeit) zu vermeiden. Infolgedessen bedarf es bereits initial der gehörigen Befunderhebung(en) samt nachfolgend adäquater Kontrolle (hier beim Patienten B), um entsprechende Weiterungen zu vermeiden.
 
  • Grundsätzlich obliegt weiter- bzw. nachbehandelnden Ärzten (neuerlich) die Verpflichtung zu ihrerseits adäquater Diagnosestellung, um auf dieser Grundlage weitere Behandlungserfordernisse lege artis bestimmen zu können. Dabei darf auf Vorbefunde zurückgegriffen werden. Umso wichtiger ist allerdings auch, dass Nach- und Weiterbehandlungsmaßnahmen nicht durch vermeintlich „sichere“ Diagnosestellungen fehlerhaft vorprogrammiert werden. Insofern bleibt zu berücksichtigen, dass notfall- und rettungsmedizinische Maßnahmen eine umfänglich adäquate Weiterbehandlung in einer Klinik eventuell „nur“ sicherstellen müssen – etwa auch durch bloße Herstellung von Verlegungsfähigkeit.
 
  • Gehört ein (Not-)Arzt zum Einsatzteam, obliegt diesem, wesentliche Behandlungsentscheidungen zu treffen. Dies gilt – unbeschadet eventuell erforderlicher Nothilfe - jedenfalls für Behandlungsmaßnahmen, welche einem sogenannten Arztvorbehalt unterliegen. Jenseits dessen vollzieht sich das Zusammenwirken von ärztlichen und nichtärztlichen Akteuren im Rahmen sogenannter vertikaler Arbeitsteilung, welche hierarchisch durch Über- und Unterordnung charakterisiert ist. Dabei obliegt es nachgeordneten Mitarbeitern – zur Gewährleistung von Schutz und Sicherheit des Patienten – „Gegenvorstellungen“ vorzubringen, wenn sich die ärztliche Behandlung objektiv fehlerhaft darstellt. Dies führt zur bereits eingangs angesprochenen Problematik der Teamkommunikation, welche es adäquat aufzulösen gilt.
 
Wenn auch die vorliegende Falldarstellung keine definitive juristische Bewertung zulässt, bietet sie doch Veranlassung für notfall- und rettungsmedizinische Teams, das eigene Agieren in der Praxis kritisch zu hinterfragen. Im Sinne eines Risikomanagements ist geboten nachzuvollziehen, ob zwischen anzustrebenden „Soll-Gegebenheiten“ und einem faktisch festzustellenden „Ist-Zustand“ Divergenzen bestehen. Gegebenenfalls lassen sich dergestalt (versteckte) Risiken erheben, welche es abzustellen gilt.

 

Take-Home-Message

  • Nachvollziehbare Entscheidungen treffen.
  • Bei einem Stichentscheid versuchen, das Team mitzunehmen.
  • Traumaversorgung ist kein „Freestyle“: Schockraumkriterien und insbesondere Kinematik beachten.
  • Zielklinik: Jeweils ein geeignetes Traumazentrum
  • Schockraumversorgung für potentiell und tatsächlich Schwerverletzte


Weiterführende Literatur:
Autoren:
PD Dr. med. T. Birkholz, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Rechtsanwalt R.-W. Bock, Rechtsanwälte Ulsenheimer-Friederich, Berlin
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg

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