Fall des Monats Juli 2018 Drucken
12.10.2018

CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen

Auch in einer sehr gut verlaufenen Polytraumaversorgung wird Verbesserungspotential gesehen


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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Auch in einer sehr gut verlaufenen Polytraumaversorgung wird Verbesserungspotential gesehen
 
Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie
 
Wo ist das Ereignis eingetreten?
Krankenhaus – Notfall-Team-Einsatz
 
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag

Versorgungsart:
Notfall

ASA-Klassifizierung:
ASA V

Fallbeschreibung:
Ein polytraumatisierter Patient im hämorrhagischen Schock wurde durch den Rettungsdienst intubiert und beatmet in den Schockraum gebracht. Bei schlechten Venenverhältnissen war nur die Anlage eines intraossären Zugangs möglich. Der Rettungsdienst wies darauf hin, dass sie erst später bemerkt hatten, dass eine proximale Fraktur vorliegt. Der Kreislauf war durch den intraossären Zugang weder ausreichend mit Volumen, noch mit Katecholaminen zu stabilisieren.
Zur Volumengabe wurde zunächst parallel durch mehrere Personen versucht einen peripheren Zugang zu legen, bevor die Entscheidung zur Subclaviapunktion fiel. Diese gelang sehr schnell und ein Shaldon-Katheter wurde eingebracht. Die anderen frei gewordenen Kräfte bemühten sich inzwischen vergeblich um die Etablierung einer invasiven Blutdruckmessung. Nachdem der Shaldon lag, fällt auf, dass das endtidale CO2 von zuvor 26 auf 8 mmHg gefallen war und das EKG ein grobes Kammerflimmern zeigte. Dies war zuvor nicht bemerkt worden, da das Anästhesie-Team bei der Katheteranlage mit dem Rücken zum Monitor stand und die chirurgischen Kollegen mit der Wundversorgung beschäftigt waren. Es wurde umgehend mit der CPR begonnen und der Defi geladen. Zu dem Zeitpunkt wurden ebenfalls Druckinfusionen angeschlossen, um die Hypovolämie zu beheben. Eine weitere Anästhesiekraft war zu dem Zeitpunkt dazu gekommen und versuchte erneut frustran eine arterielle Druckmessung anzulegen.
Die BGA, die sofort abgenommen wurde, nachdem der Shaldon lag und die Infusionen liefen, zeigte einen Hb von 4 g/dl. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die BGA abgenommen wurde, als die Infusionen schon liefen, so dass davon ausgegangen werden muss, dass hier eine Verdünnung vorlag.
Im Rahmen des Massentransfusionsprotokolls wurden neben der Gerinnungsoptimierung 6 Erythrozytenkonzentrate und 4 Flaschen lyophilisiertes Plasma verabreicht. Da das Plasma in den Glasflaschen gelöst und nicht ausreichend belüftet war, lief es nur relativ langsam über den Shaldon, so dass der Vorgang mittels Perfusorspritze beschleunigt wurde.
Nach Optimierung der Kreislaufsituation und insgesamt sehr komplexer Behandlung ließ sich eine ROSC erzielen und der Patient konnte für die Bildgebung stabilisiert werden.

Was war besonders gut?
Auf die aktuell erfassten Probleme wurde schnell reagiert und alle Maßnahmen bis auf die Anlage von peripheren Zugängen und einer Arterie gelangen prompt. Zudem wurden recht zeitnah Lösungen improvisiert.
Trotz der vielen verschiedenen Verletzungen und Zielsetzungen der einzelnen Disziplinen war der aktuelle Status zeitnah an alle kommuniziert.
Die patientennahe Versorgung durch die Pflege wurde durch die Anästhesiepflege gestemmt. Diese konnte die Notaufnahme-Pflege gut einbinden, aber es zeigte sich, dass hier das Zusammenspiel noch optimiert werden kann.
Für die Umstände relativ schnelle Stabilisierungsphase.

Was war besonders ungünstig?
Es gingen relativ viele Ressourcen dadurch verloren, dass versucht wurde i.v.-Zugänge und eine invasive Druckmessung zu etablieren. Hier wäre eine Aufteilung (eine Person peripherer Zugang, eine Person neuen intraossären Zugang in eine Extremität ohne Fraktur, eine Person bereitet den zentralen Venenzugang vor) verloren. Zusätzlich hätte zum Zeitpunkt der initialen hypotonen Phase und während der Reanimation auf die Versuche eine invasive Blutdruckmessung zu etablieren verzichtet werden können. Dadurch wären mehr Hände für andere Maßnahmen frei gewesen.
Das lyophilisierte Plasma hätte nach dem Auflösen zurück in den Beutel gegeben werden können, um eine Druckinfusion möglich zu machen.
Das komplette Monitoring war im Rücken des vollbeschäftigten Anästhesieteams. Ein Monitor an der gegenüberliegenden Seite hätte eventuell in der Initialphase ein noch schnelleres Reagieren möglich gemacht.
Bei der Abnahme der BGA wurde nicht darauf geachtet, dass es durch die Infusionen zu einer Vermischung kommt.

Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?
In Anbetracht der vielen und schweren Verletzungen kam es zu einer relativ zügigen Stabilisierung, die mitunter auch auf einer erfreulich ruhigen, unaufgeregten und konzentrierten Atmosphäre beruhte.
Um die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu verbessern wären Trainings, insbesondere mit der Pflege der Notaufnahme und den RTAs sinnvoll, da hier die Kommunikation zwar gut, aber längst nicht so gut wie zwischen den anderen Disziplinen war. Zudem könnten hier Stellproben dafür sorgen, dass sich möglichst wenig im Weg gestanden wird und mehr Zeit eingespart werden kann.
Zudem wäre ein Training im Klinikalltag eher seltener Maßnahmen (z.B. Lyoplas) oder kritischer traumaspezifischer Patientenzustände hilfreich.
Die Schockraumleitung sollte zusätzlich darauf achten, dass Prozeduren nicht unnötig viel Zeit kosten, sondern frühzeitig dafür sorgen, dass Alternativen angegangen werden.
Ein zusätzlicher Monitor mit den Vitalparametern in Blickrichtung des am Patienten arbeitenden Anästhesie-Teams oder die (Ein-) Planung einer zusätzlichen Kraft, die alles ansagen kann und nicht voll von der Patientenversorgung vereinnahmt ist, wäre wichtig.

Häufigkeit des Ereignisses?
mehrmals pro Jahr

Berufserfahrung:
über 5 Jahre



Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Den Meldern ist an dieser Stelle für die sehr offene Schilderung einer dramatischen und komplexen klinischen Situation zu danken. Lesern mit Erfahrungen im Schockraummanagement mögen einzelne Fallstricke durchaus bekannt vorkommen. Letztlich hatte der Fall einen primär positiven Ausgang, der Verblutungsschock konnte bekämpft und ein ROSC erzielt werden.
 
Im Rahmen dieses Falls des Monats sollen drei Schwerpunkte gelegt werden: Alarme und deren Wahrnehmung, Struktur und Ausstattung im Schockraum und CRM-Aspekte einschließlich der Koordination und der Teamchoreographie.
 
Alarme und deren Wahrnehmung:
 
Die Einstellung und Wahrnehmung von Alarmen im Setting des vital bedrohten Patienten ist ein relevanter Faktor: Einerseits sollten diese gegenüber "Normwert"-Abweichungen möglichst permissiv eingestellt sein, so dass es nicht zu einem abstumpfenden Daueralarm kommt. Praktisch kann dies beispielsweise durch Verzicht auf komplexe Arrhythmie-Alarme und redundante Alarmierungen (Puls und EKG-Herzfrequenz bei Erwachsenen) sowie weiter gefasste Alarmgrenzen und Blutdruckalarme nur für Systole und mittleren arteriellen Druck geschehen. Andererseits sollten aber die vitalen Alarme (VT/VF und Asystolie) scharf gestellt sein und auch von der Signalisierung gegenüber beispielsweise Hypotonie-Alarmen vernehmbar abgegrenzt sein. Die Möglichkeiten sind hier allerdings stark von den verwendeten Monitoring-Systemen abhängig.
 
In diesem Fall ist nicht berichtet, dass dem Team ein vitaler Alarm des Monitoring-Systems aufgefallen sei. Neben dem unwahrscheinlicheren Fall von vollständig deaktivierten Alarmen kommt das Phänomen der „Alarmmüdigkeit“ in Frage. „Alarmmüdigkeit/-erschöpfung“ („alarm fatique“) war zunächst überwiegend auf Intensivstationen und in Überwachungsbereichen beschrieben. Es stellt ein neueres Forschungsgebiet mit Bezug zur Patientensicherheit dar [1]. Faktoren für Alarmmüdigkeit sind für die Akutmedizin typische, hohe Arbeitsbelastung und durch häufige Alarme auftretender kognitiver Stress. Die Mehrheit der in Studien verzeichneten Alarme (>> 80%) erforderten keine Intervention und waren damit Bestandteil einer störenden Geräuschkulisse mit nicht erforderlicher Information [1]. „Alarmmüdigkeit“ wird in Bezug auf Patienten- und Arbeitssicherheit als relevant angesehen, unter anderem werden ihr auch Todesfälle zugeschrieben [1].
Im konkreten Fall könnte es zum perzeptiven Ausblenden des Alarms aufgrund der Fixierung des Teams auf jeweilige Einzelaufgaben („Zugang suchen“, „Arterienpunktion“, „Wundversorgung“) gekommen sein.
Wie kann einer solchen Problematik systemisch begegnet werden? Einerseits sind verbesserte technische Vorkehrungen (Alarm-Algorithmik) und eine trennscharfe und intelligente Einstellung von Alarmgrenzen zu nennen (s.o.), andererseits kann ein akustischer Alarm mit effektiver mit einer optischen Signalisierung zusammenwirken [1], da die menschliche Kognition sehr auf optische Reize ausgerichtet ist.
 
Struktur und Ausstattung im Schockraum:
 
Die optische Darstellung von Alarmen findet im Regelfall an oder auf einem Vitaldaten- oder Überwachungsmonitor für Medizintechnik (z.B. einem Narkosegerät) statt. Sofern diese Geräte nicht immer im Blickfeld des Teams sind, entfällt diese Sicherheitsleistung wie im gezeigten Fall.
Somit ist in einem Schockraum ein wichtiger Strukturaspekt die Einsehbarkeit zumindest des physiologischen Monitorings, um vitale Veränderungen und relevante Alarme auch optisch zu bemerken. Im vorliegenden Fall von grobem Kammerflimmern wäre wahrscheinlich allein der optische Aspekt der EKG-Morphologie ein hinreichend starkes Signal gewesen.
Schockräume mit klassischen Anästhesie-Arbeitsplätzen sind hier problematisch, da das Monitoring nicht unbedingt in der Sichtachse des Anästhesie-Team liegt. Lösbar ist das Problem beispielsweise durch die Installation eines Monitoring-Sichtgerätes in der Hauptblickrichtung der anästhesiologischen Teammitglieder oder besser als Vitalzeichenmonitor für das gesamte Schockraumteam. Ergänzt werden kann die Installation durch weitere Informationen wie die Darstellung der Schockraumzeit und von Bildgebung.
Es bleibt jedoch festzustellen, dass auch ein optischer Alarm ohne Konsequenz bleibt, wenn ihn niemand wahrnimmt, weil alle Teammitglieder mit einer Einzelaufgabe beschäftigt sind.
 
CRM, Koordination und Teamchoreographie:
 
Im genannten Fall waren ein grobes Kammerflimmern und ein hoch pathologisches etCO2 zu erkennen. Diese optischen Hinweise wurden initial nicht wahrgenommen – sie fielen trotz ihres starken Hinweischarakters nicht „ins Auge“ und es behielt offenkundig niemand die Übersicht.
 
Mit dieser Frage kommen wir zum inhaltlichen Schwerpunkt der Meldung, dem CRM im Schockraum. Die CRM-Regel 5, 9 und 14 treffen hier besonders gut zu: "Verteile die Arbeitsbelastung", "Erkenne und verhindere Fixierungsfehler" und "Lenke deine Aufmerksamkeit bewusst". Die primäre Zuständigkeit für die Vitalzeichenüberwachung liegt beim anästhesiologischen Team, das
offenbar einem gemeinsamen Wahrnehmungs- und Fixierungsfehler ("Alle stürzen sich zusammen auf eine Aufgabe") erlegen ist.
 
In komplexen Schockraumsituationen ist auch innerhalb eines Teams einer Fachgruppe eine grundsätzlich vorgeplante Aufgabenverteilung erforderlich. Für die Anästhesiologie wäre im genannten Maximalversorgungssetting beispielhaft die initiale Verteilung Oberarzt Neuanlage Zugänge, Assistenzarzt Monitoring und Beatmung, Pflegekraft I Anlegen des Monitorings und Pflegekraft II Infusionsmanagement denkbar. Letztlich muss immer eine fachlich geeignete Person das physiologische Monitoring im Blick behalten. Gleichzeitig muss die Koordination gewährleistet sein.
 
Schockraumbehandlung erfordert Führungsfunktionen. Die Rolle des sog. Trauma-Leaders ist hier differenziert zu betrachten [2]. Dem Trauma-Leader fällt eine unverzichtbare Aufgabe bei der Koordination der Maßnahmen und dem Zeitmanagement zu, ohne dass ihm in jedem Fall die Beurteilung aller Vitaldaten zugemutet werden sollte. Letztlich sollte aufgrund der fachlichen Zuständigkeit das Monitoring immer im Blick der anästhesiologischen Teammitglieder sein.
 
Die Melder beschreiben zutreffend, dass künftig „Stellproben“ erwogen werden. Diese Vorbereitung für die Teamchoreographie ist ein wesentlicher Aspekt und an den örtlichen Strukturen auszurichten. Nicht nur im Setting des Maximalversorgers ist es wahrscheinlich, dass im Schockraum eine Vielzahl von unterschiedlich zusammengesetzten ad-hoc-Teams zusammen kommt. Dies steigert die Erfordernis und den Aufwand für Trainings leider gleichermaßen und verlangt nach pragmatischen und wirksamen Umsetzungen. Zur Vereinheitlichung des Vorgehens und Zusammenwirkens wäre u.a. eine graphische Aufstell- und Funktionsbeschreibung denkbar.
 
Zur Überprüfung und Weiterentwicklung solcher Choreographien dazu sind insbesondere fachübergreifende CRM-basierte Schockraumtrainings sinnvoll. Hier sind interdisziplinär ausgerichtete Kursformate, aber auch insbesondere Simulationstrainings zu nennen. Absolvierte Kurse werden im Rahmen der Zertifizierung als Traumazentrum gefordert, und interdisziplinäre Trainings im Weißbuch Schwerverletztenversorgung empfohlen [3].
 
 
 
 
Zusammenfassung
 
Die Meldenden haben die notwendigen Maßnahmen bereits formuliert – technische Aufrüstung und CRM-Maßnahmen. Die Fallschilderung betont die gute kommunikative Teaminteraktion, so dass - mit geringem strukturellem Aufwand wie einem Zusatzmonitor und gezielten CRM-Schulungen - dem Team künftig die noch bessere Bewältigung einer solch herausfordernden klinischen Situation gelingen kann.



 

Take-Home-Message

  • Die Einstellung der technischen und physiologischen Alarme im Schockraum sollte sparsam, aber relevant sein.
  • Das physiologische Monitoring sollte in der Sichtachse des anästhesiologischen Teams sein und von allen Teammitgliedern eingesehen werden können.
  • Die Teamchoreographie sollte vorab eingeübt werden.
  • Die Übersicht und Teamkoordination soll zu jedem Zeitpunkt gewährleistet sein.
  • Regelmäßiges Schockraumtraining ist hilfreich.



Weiterführende Literatur:
Autoren:
PD Dr. med. T. Birkholz, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg

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