Fall des Monats November 2018 Drucken
07.03.2019

CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen

Pflegebedürftiger Patient wird vom Rettungsdienst ohne Hausschlüssel in die Notaufnahme gebracht - der Rücktransport erfolgt mit Hindernissen


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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Pflegebedürftiger Patient wird vom Rettungsdienst ohne Haussschlüssel in die Notaufnahme gebracht - der Rücktransport erfolgt mit Hindernissen

Zuständiges Fachgebiet:
anderes Fachgebiet: Notaufnahme UCH

Wo ist das Ereignis eingetreten?
Krankenhaus - Notfallaufnahme
 
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag

Versorgungsart:
Notfall

ASA-Klassifizierung:
ASA III

Patientenzustand:
Der Patient sitzt im Rollstuhl und ist Diabetiker.

Wichtige Begleitumstände:
Der Patient wird von einem ambulanten Pflegedienst in der Früh versorgt und bekommt Insulin verabreicht.

Fallbeschreibung:
Der Patient war am Abend aus seinem Rollstuhl gefallen und wurde in die Notaufnahme gebracht. Diagnostik und Therapie waren gegen 2 Uhr abgeschlossen und der Transport wurde bestellt.
Um 6.30 Uhr wurde der Patient in der Notaufnahme abgeholt und nach Hause gefahren. Der Rettungsdienst hatte den Patienten am Abend zuvor ohne Schlüssel ins Krankenhaus transportiert. Der Patient sagte aber, dass ihm sein Nachbar die Türe öffnen könne.
Um 7.00 Uhr wurde der Patient wieder zurück in die Notaufnahme gebracht, da niemand die Tür öffnen konnte.
Der Patient erklärte, dass er eigentlich schon am Vorabend nicht ins Krankenhaus wollte und dass um 8.00 Uhr sein Pflegedienst zu ihm kommen würde.
Die Pflegekraft der Notaufnahme nahm mit dem ambulanten Pflegedienst Kontakt auf und bat um die Koordination mit dem Transportbüro, dass der Patient wieder nach Hause in seine Wohnung kommt.
Der Patient wurde um 8.30 Uhr abermals in der Notaufnahme abgeholt.

Was war besonders gut?
- Versorgung des Patienten.
- Nach Rücksprache mit dem ambulanten Pflegedienst schnelle Abholung durch Transportbüro.

Was war besonders ungünstig?
- Versorgungsdauer des Patienten unter 3 Stunden, Wartezeit auf Transport über 4 Stunden.
- Rettungsdienst bringt keinen Schlüssel vom Patienten mit in die Notaufnahme.
- Der Patient wollte initial gar nicht in die Notaufnahme gebracht werden.

Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?
- Der Rettungsdienst muss zum Wohle des Patienten darauf achten, dass wichtige Wertgegenstände mitgenommen werden.

Häufigkeit des Ereignisses?
mehrmals pro Jahr

Wer berichtet?
Pflegekraft

Berufserfahrung:
über 5 Jahre



Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Der detailliert dargestellte Fall ermöglicht es, genauer über das System der Notfallversorgung nachzudenken.
 
Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass der in der Wohnung zurückgelassene Hausschlüssel nur ein Anlass für die Verwirklichung eines systemischen Problems bezüglich der Nutzung der Systeme der Notfallversorgung darstellt: Ein Auslöser beschreibt somit nicht das systemische Problem.
 
Diese Tatsache drängt den auch als Beschwerde wahrnehmbaren Ratschlag in den Hintergrund, dass wesentliche Wertsachen – also auch der Hausschlüssel - im Sinne des Patienten vom Rettungsdienst immer mitzunehmen seien. Eine persönliche Fehlleistung lässt sich aus dem Sachverhalt ohnehin nicht sicher ableiten – denn sowohl der Patient als auch der Rettungsdienst waren wohl einer Fehleinschätzung aufgesessen: Der Nachbar konnte die Wohnung bei Rückkehr anders als erwartet nicht aufsperren. Vordergründig wäre hier als Verallgemeinerung abzuleiten, künftig solchen Angaben gegenüber misstrauisch zu sein und im Zweifelsfall den Schlüssel mitzunehmen. Die Angabe, dass der Patient wohl im Nachhinein nicht hätte transportiert werden wollen, müssen wir im Raum stehen lassen – sie trägt nicht zum systemischen Erkenntniswert des Falles bei und verstärkt den oben angesprochenen Eindruck einer Beschwerde.
 
Als weniger banal stellt sich jedoch das Geschehen rund um die wiederholten Transporte dar. Im Kern dieses Falles geht es um die bestimmungsgemäße Nutzung von Transportleistungen des öffentlich-rechtlichen Rettungsdienstes und von Kapazitäten der Notfallaufnahmen.
 
Der erste Transport und die Diagnostik in der Notaufnahme waren formal medizinisch indiziert, denn ein relevant internistisch erkrankter, gestürzter Rollstuhlfahrer wurde zum Ausschluss von Verletzungen oder vielleicht auch von inneren Ursachen des Sturzes in eine Notfallaufnahme gebracht. Der erfolgreiche Abschluss der ersten Heimfahrt scheiterte dann an der verschlossen Haustür und dem fehlenden Hausschlüssel.
 
Ob die Heimfahrt und erneute Fahrt in die Notfallaufnahme mit einem Fahrzeug des Rettungsdienstes erfolgten, geht aus dem Fall nicht hervor. Es ist aber sehr wahrscheinlich, da Krankentaxis für Rollstuhlfahrer zu der im Fall angegebenen Uhrzeit in der Regel nicht zur Verfügung stehen.
 
Sicher erscheint zudem, dass die Rücküberstellung in die Notfallaufnahme und die weitere Heimfahrt medizinisch nicht erforderlich waren und somit nicht auf Kosten der Krankenversicherung zu bewältigen waren. Zum Verständnis ist ein Exkurs in die komplexe Finanzierung des Rettungsdienstes, der Krankentransporte und der Behandlungseinrichtungen erforderlich. Eine Transportleistung auf Kosten der Krankenversicherung ist an die gesetzlichen Vorschriften und die vereinbarten Versicherungsleistungen gebunden. Für den gesetzlich versicherten Patienten gilt – wie auch im Regelfall auch für private Patienten – der Regelungsrahmen des Sozialgesetzbuches:
 
Die Krankenkasse übernimmt (...) die Kosten für Fahrten (...) (Fahrkosten), wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sind. Welches Fahrzeug benutzt werden kann, richtet sich nach der medizinischen Notwendigkeit im Einzelfall. (§ 60 SGB V Abs. 1)
 
Da die erneute Zuweisung in die Notfallaufnahme keinen medizinischen Hintergrund hatte, kann weder der Aufenthalt dort als auch der Transport dorthin den Kostenträgern in Rechnung gestellt werden. Somit gehört dies auch nicht zu den vorgesehenen Aufgaben im Krankentransport und der Notfallaufnahme. Die Hilfsbedürftigkeit des Patienten steht jedoch außer Frage. Damit steht der Fall prototypisch für die Lücken des Systems der Notfallversorgung im Bereich sozialer Notlagen.
 
In manchen rettungsdienstlichen Systemen ist die nichtmedizinische Hilfeleistung eine mögliche, wenn auch nicht verrechenbare Leistung. So kennt der bayerische Rettungsdienst die „nicht zeitkritische Hilfeleistung“ als Einsatzstichwort (1). Im Kontext einer Behandlungseinrichtung ist eine „soziale Indikation“ nicht vorgesehen – sie verbirgt sich manchmal hinter einer Verlegenheitsdiagnose.
 
Ich möchte an dieser Stelle den Blick zurück auf die konkrete Situation lenken: Man kann sich lebhaft die mit dem rollstuhlpflichtigen Patienten ratlos vor der Haustür stehende Besatzung vorstellen. Hier sind eine ganze Reihe möglicher Lösungen für das Problem denkbar – wie z.B. die Verständigung des Pflegedienstes, der möglicherweise über einen Schlüssel verfügt. Ein versierter Feuerwehrmann hätte die Tür möglicherweise ohne Beschädigungen öffnen können. Die Besatzung ist somit aufgefordert gewesen, vor Ort eine Lösung finden sollen – auch wenn dies kein originärer Bestandteil der Transportdienstleistung ist –, denn das Aussetzen eines rollstuhlpflichtigen Patienten vor der Wohnung verbietet sich dem Grunde nach. Letztlich würde die Hilfe vor Ort einer „Hilfeleistung“ aus der genannten bayerischen Systematik entsprechen. Für eine „Hilfeleistung“ spricht auch die Hilfs- und Pflegebedürftigkeit des Patienten.
 
Nicht statthaft hingegen ist der medizinisch nicht indizierte Rücktransport in die Notfallaufnahme – dadurch resultiert eine Fehlnutzung gleich zweier Ressourcen. Warum der Rücktransport dennoch erfolgte, darüber kann nur spekuliert werden. Verständlich wäre es, wenn es sich um einen RTW handelte, der möglichst sofort wieder einsatzklar gemacht werden sollte. Unter diesem Hintergrund könnte das Handeln aus Sicht der Besatzung sogar im Hinblick auf künftige Notfallpatienten folgerichtig gewesen sein. Auch kann nicht unbegrenzt lang nach einer Lösung gesucht werden, um dem Patienten wieder Zugang zu seiner Medikation zu ermöglichen (u.a. Insulin), und eine Türöffnung durch einen Schlüsseldienst wäre zwar eine abschließende, aber nicht anstrebenswerte Lösung.
 
In der Gesamtschau bleibt der systemische Aspekt des Falles bestehen: Die Fehlnutzung von Ressourcen der Notfallversorgung in Präklinik und Klinik, die in diesem Fall durch einen organisatorischen Lapsus entstanden ist.
 
Es wird deutlich, dass das System der Notfallversorgung keine ausreichenden Ressourcen für psychosoziale, pflegerisch-betreuungsbedingte oder sonstige organisatorische Notfälle vorhält und damit Fehlnutzungen vorprogrammiert sind. Dies ist das heimliche Kernproblem des Falles. Diese faktischen Probleme müssen in einem diesen Namen verdienenden, integrierten System der Notfallversorgung mit bedacht werden, denn sie treten immer wieder auf und beruhen nicht nur auf fehlenden Schlüsseln und Fehleinschätzungen der Verfügbarkeit des Nachbarn.
 
Der Blick über den deutschen Tellerrand hinaus zeigt, dass das Problem wahrgenommen wurde und es Lösungen geben kann (2). Nicht indizierte rettungsdienstliche Transporte sind ein zunehmendes rettungsdienstliches Problem in westlichen Gesellschaften. Ein angepasstes Angebot kann solche Probleme verringern, indem bestehende Ressourcen umstrukturiert werden. Beispielsweise sind nach einer Reorganisation soziale und psychische Notlagen im System der Nothilfe in Kopenhagen abgebildet. In Deutschland wäre hier eine transsektorale Umstrukturierung unter Einbeziehung und Abstimmung der vielfältigen Zuständigkeiten erforderlich. Um ein System der Notfallversorgung in diese Richtung zu entwickeln, ist allerdings auf allen Seiten Bereitschaft, Mut und Tatkraft erforderlich.
 
Die Klammer dieses Falles schließt der Appell, im Rahmen der Unzulänglichkeiten des Systems der Notfallversorgung mit gegenseitiger Rücksichtnahme zu agieren und Probleme unter dem Primat der Patientensicherheit innerhalb der vorgesehenen Strukturen zu lösen.


Die Analyse aus Sicht des Juristen
Mit sicherem Gespür wurde die Frage im Meldeformular „Was war besonders gut?“ mit „Versorgung des Patienten“ beantwortet. Dem kann – um das Ergebnis der Analyse aus juristischer Sicht vorwegzunehmen – nur zugestimmt werden.
 
Aus der Falldarstellung resultiert zwar kein vollkommenes Bild zum fraglichen Geschehen, doch wird in der „Analyse aus Sicht des Anästhesisten“ konstatiert, eine Hilfsbedürftigkeit des Patienten stehe außer Frage (siehe oben). Infolgedessen soll hier auch nicht spekuliert werden, welche sonstigen Hilfsmaßnahmen seitens des Rettungsdienstes hätten in Betracht kommen können und welche weiter gehenden Gefährdungen für den Patienten, insbesondere auch als schwere Gesundheitsschädigung, drohten – offenbar ging die Sache gut aus. Mithin wurde durch das pragmatische Agieren des Rettungsdienstes jedenfalls auch vermieden, dass schon nur Vorwürfe unter haftungs- und strafrechtlichen Aspekten zu erheben gewesen wären. Letzteres hätte – je nach Fallkonstellation – die Straftatbestände der Unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB), der Aussetzung (§ 221 StGB) und der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) anlangen können.
 
Die Klinik hatte den Patienten zur Behandlung in der Nacht in ihre „Obhut“ genommen und wollte ihn durch Verlegung nach Hause daraus entlassen. Dies ließ sich nicht realisieren, weshalb die Rettungsdienstkräfte dafür sorgten, dass der Patient neuerlich in die gesicherte Obhut der Klinik verbracht wurde, wie es rechtlicher Verpflichtung entsprochen hat.
 
Insofern ist es zur juristischen Fallbeurteilung auch müßig, unter Ressourcenaspekten, insbesondere auch finanziellen bzw. wirtschaftlichen Aspekten, eine „Systemfrage“ aufzuwerfen. In der konkreten Situation bedurfte es einer pragmatischen Problemlösung. Dabei darf auch nicht vernachlässigt werden, dass sozialrechtliche Maßgaben und Organisationsregelungen ohnehin nicht stets mit haftungs- und strafrechtlichen Anforderungen in eins gehen. Eventuell kann z. B. „medizinisch“ geboten sein, was sozialrechtlich keiner Kostenerstattung unterliegt.
 
Darüber hinaus bleibt selbstverständlich zu fragen und aus der Praxis heraus zu bedenken, welche Informationen, Gegenstände und auch Unterlagen (z. B. eine Patientenverfügung) bei der initialen Verlegung eines – gerade auch allein lebenden – Patienten in eine medizinische Einrichtung möglichst einzuholen bzw. „mitzunehmen“ sind, um unter allen Aspekten eine im Weiteren sichere Versorgung zu gewährleisten.


 

Take-Home-Message

  • Lösungen von Problemen außerhalb der Routine sind oftmals im System der Notfallversorgung nicht abgebildet.
  • Gegenseitige Rücksichtnahme und Verständnis für andere Ressourcen in der Notfallkette ist manchmal schwierig, aber notwendig.
  • Die Patientenversorgung sollte insgesamt so organisiert sein, dass möglichst keine „unerwarteten Situationen“ eintreten können.
  • Auch in „unerwarteten Situationen“ muss sich das Agieren so gestalten, dass „Schutz und Sicherheit des Patienten“ die oberste Maxime bilden.

Weiterführende Literatur:

Autoren:
Prof. Dr. med. T. Birkholz, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Rechtsanwalt R.-W. Bock, Ulsenheimer - Friederich Rechtsanwälte, Berlin
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg

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