Fall des Monats Frühjahr 2019 Drucken
10.04.2019

CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen

Versorgung eines Kleinkinds in einem Haus ohne entsprechende anästhesiologische Erfahrung


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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Versorgung eines Kleinkinds in einem Haus ohne entsprechende anästhesiologische Erfahrung

Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie

Wo ist das Ereignis eingetreten?
Krankenhaus - OP
 
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochenende / Feiertag

Versorgungsart:
Notfall

ASA-Klassifizierung:
ASA I

Patientenzustand:
Kind 1 Jahr, biologisch gesund, Verletzung an einer Extremität mit OP-Indikation

Wichtige Begleitumstände:
Der Anteil der Anästhesien bei Kindern unter 3 Jahren ist in der Abteilung sehr gering (< 0,5% bei ca. 13.000 Anästhesien pro Jahr). Es ist entsprechend keine Routine vorhanden.

Fallbeschreibung:
Der anästhesiologische Verlauf ist unauffällig (maximale Rekrutierung aller Ressourcen im Dienst).
Es wird den Operateuren der kritische Hinweis gegeben, dass entsprechend der europäischen Leitlinie Kinder unter 3 Jahren in spezialisierten Zentren versorgt werden sollen. Die Gründe sind bekannt:
fehlende Übung, Teaching im täglichen Betrieb mangels Patienten nicht durchführbar.

Was war besonders gut?
s.o.

Was war besonders ungünstig?
Es war kein vitaler Notfall. Das Kind wurde von den Operateuren zur Versorgung angenommen.

Eigener Ratschlag (Take-Home-Message)?
- Einigung auf eine Alters-Untergrenze (3 Jahre)
- Versorgung entsprechend der europäischen Leitlinie von 2008
- Offene Kommunikation mit Operateuren

Häufigkeit des Ereignisses?
jeden Monat

Wer berichtet?
Arzt / Ärztin

Berufserfahrung:
über 5 Jahre



Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Es wird gemeldet, dass die unfallchirurgische Versorgung eines Säuglings/Kleinkindes die beteiligten Personen vor sehr große Herausforderungen stellte, da die Expertise zur anästhesiologischen Betreuung von Patienten dieser Altersgruppe als extrem gering angesehen werden kann. Nach Rekrutierung maximaler Ressourcen verläuft letztlich alles erfolgreich.
In einem Haus der Maximalversorgung, wie der meldenden Klinik, kann es immer wieder zu ähnlich gelagerten Situationen kommen, auch wenn keine eigene kinderchirurgische Abteilung vorgehalten werden sollte. Unfallpatienten oder beispielsweise HNO- oder kieferchirurgische Patienten in dieser Altersklasse sind nicht selten. In einigen Fällen kann sich die Klinik trotz der vom Melder angesprochenen Empfehlung der Federation of the European Association of Paediatric Anaesthesia (FEAPA) einer Versorgung nicht verwehren. Aus diesem Grund sollte besonders der Punkt 4.5. der Empfehlung Beachtung finden, den ich hier im Folgenden zitieren möchte:
 
"Das Anästhesiepersonal eines nicht auf die Versorgung von Kindern spezialisierten Krankenhauses sollte einen verantwortlichen Mitarbeiter benennen, dem die Verantwortung für die Organisation der Versorgung von Kindern sowie für die Ausbildung und die Anleitung weiterer Kollegen in der Abteilung übertragen werden. Diesen Fachleuten sollte ermöglicht werden, regelmäßig an der perioperativen Betreuung von Kindern teilzunehmen. Jedoch sollten sie nicht die alleinigen Experten für diese Aufgabe bleiben. Von ihnen wird erwartet, dass sie ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in der pädiatrischen Anästhesie und Reanimation, die sie während ihrer Ausbildung erlangt haben, regelmäßig auffrischen. Sie sollten folglich die Gelegenheit zu Hospitationen in Kinderanästhesiezentren erhalten, zumindest einmal jährlich."
 
Somit sollte eine solche Meldung zum Anlass genommen werden, sich über die internen Strukturen Gedanken zu machen und gegebenenfalls eine Umgestaltung den zitierten Empfehlungen entsprechend zu planen.

Rückmeldung des Wissenschaftlichen Arbeitskreises Kinderanästhesie der DGAI
Das Thema Anästhesie bei Neugeborenen, Säuglingen und kritisch kranken Kindern in Einrichtungen ohne Pädiatrie und ohne regelhafte kinderanästhesiologische Expertise und Infrastruktur ist ein „Dauerbrenner“ in vielen Kliniken.
 
An bindenden Vorgaben für die individuelle Expertise des Anästhesisten gibt es letztlich nur allgemein gültige Anforderungen i.S. des „Facharztstandards“ und – bezogen auf Neugeborene – zusätzlich die Leitlinie zur perinatologischen Versorgung in Deutschland [1]. Grundsätzlich kann also jeder Facharzt für Anästhesiologie, der es sich zutraut, uneingeschränkt Kindernarkosen durchführen. Aus Sicht des Wissenschaftlichen Arbeitskreises für Kinderanästhesie (WAKKA) der DGAI ist eine nur gelegentliche kinderanästhesiologische Praxis jedoch sehr kritisch zu bewerten.
 
Ein wichtiges Dokument ist das Eckpunktepapier von DGAI und BDA, in dem für Anästhesien bei Kindern < 1 Jahr eine Doppelbesetzung formuliert wird [2].
 
Nach Auffassung des WAKKA braucht es für die kompetente Versorgung von Neugeborenen, Säuglingen und kritisch kranken Kindern (inkl. Kindern mit anästhesierelevanten, syndromalen oder anderen Vorerkrankungen) insbesondere drei Voraussetzungen:
 
  1. Ein kompetentes (kinder-)anästhesiologisches Team (Ärzte UND Pflege) mit zuverlässiger Kinderexpertise und ausreichend hohen Fallzahlen
  2. Funktionierende Strukturen (Equipment, Räumlichkeiten etc.)
  3. Definierte Prozesse (SOPs, Absprachen z.B. mit Kinderchirurgie, Pädiatrie und Kinderintensivstation, ggf. auch in einer fest kooperierenden, gut erreichbaren Nachbarklinik)
 
Unbedingt sollte der Schulterschluss mit einer benachbarten Kinderklinik gesucht und eine schriftlich fixierte Kooperationsvereinbarung abgeschlossen werden, die regelt, wie z.B. im Falle von Komplikationen oder bei einer (erweiterten) postoperativen Verlegung vorgegangen wird.
 
Vorgaben für Equipment, Räumlichkeiten etc. sind in den Mindestanforderungen von DGAI und BDA formuliert [3].
 
Belastbare SOPs für häufige und typische Themen, z.B. präoperative Evaluation, Infusionstherapie, Übersicht der Anästhesieverfahren für bestimmte Eingriffe, postoperative Schmerztherapie etc. sind eine gute Basis und schaffen für alle Beteiligten (inkl. Pflege!) Klarheit und Transparenz. Dies ist umso wichtiger, wenn Kinder im Haus eher seltene Patienten sind.
 
Potentielle und typische perioperative Komplikationen bei Kindern sollen natürlich zuverlässig erkannt und effektiv beherrscht werden. Neben SOPs zu typischen Komplikationen (z.B. Laryngo-/Bronchospasmus, Aspiration, LA-Intoxikation, Blutung, Hypotonie etc.) kann ein regelmäßiges, ggf. simulatorbasiertes Notfall-Teamtraining dies gut unterstützen.
 
Entscheidend ist in unseren Augen die enge, kollegiale Absprache und Kooperation mit den Operateuren über das perioperativ sicher zu versorgende Spektrum an Patienten und Operationen sowie mit den kooperierenden Kinderchirurgen und Pädiatern, gerade wenn diese nicht im eigenen Haus sind. Hier sollten Sie für Kernprozesse interdisziplinäre Vereinbarungen treffen (z.B. Transport und Übergabe OP/NICU) und den engmaschigen Austausch (z.B. gemeinsame prä-/postoperative Fallbesprechungen) suchen. Eine vertrauensvolle, interne Zusammenarbeit ist letztlich unerlässlich bei der gemeinsamen sicheren klinischen und organisatorischen Versorgung der Patienten/Kinder. Die eventuelle Exklusion von Patienten/Kindern mit besonderer Risikokonstellation, die in einer betreffenden Einrichtung mutmaßlich nicht elektiv versorgt werden sollten, ist dabei Ausdruck interdisziplinärer Verantwortung und Kompetenz.
 
Gute Inspiration zu dem übergeordneten Thema „Sicherheit und Qualität in der Kinderanästhesie“ hat die Initiative Safetots zusammengefasst [4].

Die Analyse aus Sicht des Juristen
Der Patient, also auch das kranke Kind, hat innerhalb und außerhalb der Regeldienstzeiten einen Anspruch auf eine Versorgung, die dem Facharztstandard entspricht. Facharztstandard ist, wie allgemein bekannt, nicht identisch mit der formellen Facharztanerkennung sondern gewährt dem Patienten einen Anspruch auf eine Behandlung, die der eines sorgfältig arbeitenden (erfahrenen) Facharztes in der konkreten Situation entspricht. Der Facharztstandard ist ein Qualitätsmaßstab. Weder ist die formelle Facharztanerkennung zwingend erforderlich, noch ist sie in jedem Fall ausreichend. Letzteres dann nicht, wenn die Versorgung des konkreten Patienten zusätzliche Erfahrungen und Kenntnisse erfordert, die im Rahmen der üblichen Facharztweiterbildung nicht vermittelt werden.
 
Nach § 630a Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hat die Versorgung eines Patienten dem Stand der medizinischen Wissenschaft zum Zeitpunkt der Behandlung zu genügen. Der Arzt schuldet eine Behandlung nach den allgemein anerkannten Standards in der Medizin. Wie die Begründung der Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren zu § 630a BGB festgestellt hat, ist für Ärzte im Regelfall auf den jeweiligen Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und ärztlicher Erfahrung abzustellen, der zur Erreichung des Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat. Maßgeblich sind, so die Begründung der Bundesregierung, insoweit regelmäßig Leitlinien, die von den wissenschaftlichen Fachgesellschaften vorgegeben werden. Leitlinien in diesem Sinne meint aber auch sonstige verbindliche Verlautbarungen der Fachgebiete, soweit diese nicht bloß einen Trend, sondern schon den aktuellen wissenschaftlichen Stand der Erkenntnisse wiedergeben, der zur Erreichung des jeweiligen Behandlungsziels erforderlich ist, sich in der praktischen Erprobung bewährt hat und im Fachgebiet anerkannt ist.
 
Soweit für die Versorgung von Säuglingen/Kleinkindern bestimmter Altersgruppen besondere praktische Fertigkeiten und theoretischen Kenntnisse nach Auffassung des Fachgebietes erforderlich sind, muss der Krankenhausträger, von echten, zeitlich dringlichen Notfällen, in denen keine andere Hilfe erreichbar ist, für eine entsprechende Behandlungsqualität durch Einsatz entsprechend aus- und weitergebildeter Ärzte sorgen. Soweit die entsprechende individuelle Expertise nicht vorhanden ist, muss den Ärzten Gelegenheit gegeben werden, ihre Kenntnisse aufzufrischen oder zu erweitern. Ist eine standardgerechte Versorgung im aufnehmenden Krankenhaus nicht gewährleistet, muss darüber nachgedacht werden, ob der Patient nicht an ein entsprechend ausgestattetes Haus verwiesen werden muss.


 

Take-Home-Message

  • Wichtiger als die Festlegung einer starren Altersgrenze ist die Gewährleistung einer kompetenten Versorgung durch ein versiertes (kinder-)anästhesiologisches Team aus Ärzten und Pflegekräften.
  • Soweit die erforderliche (kinder-)anästhesiologische Expertise nicht in ausreichendem Umfang vorhanden ist, muss den Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden, entsprechende Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben.
  • In kollegialer Absprache und Kooperation mit den Operateuren sowie den anderen beteiligten Fachgebieten sollte das Spektrum der im Haus perioperativ sorgfaltsgerecht zu versorgender Patienten und Eingriffe definiert werden.

Weiterführende Literatur:

Autoren:
Dr. med. P. Frank, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Medizinische Hochschule Hannover
Wissenschaftlicher Arbeitskreis Kinderanästhesie
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg

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