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12.06.2020

CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen

Ein Patient mit akutem Thoraxschmerz im Rettungsdienst

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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Ein Patient mit akutem Thoraxschmerz im Rettungsdienst

Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie

NACA-Score des Patienten (vor dem Ereignis):
NACA III

Wo fand das kritische Ereignis statt?
Wohnung

In welchem Zusammenhang fand das Ereignis statt?
Medikamentengabe - Diagnostik

Patientenzustand:
keine Dauermedikation, keine Vorerkrankungen, ca. 50 Jahre

Wichtige Begleitumstände:
Häusliches Umfeld

Fallbeschreibung:
Es erfolgte eine Alarmierung von RTW und NEF zu einem Patienten mit V.a. ACS. Der RTW traf ca. 10-15 min vor dem NEF an der Einsatzstelle ein. Der Patient hatte pektanginöse Beschwerden. Es wurden folgende Befunde erhoben: Hypertonus, keine Atemnot, rosiges Hautkolorit und keine Kaltschweißigkeit. Die restlichen Vitalzeichen waren im Normbereich. Es
wurde ein 12-Kanal-EKG geschrieben, ein peripher-venöser Zugang gelegt und eine Vollelektrolytlösung angeschlossen.
Das 12-Kanal-EKG war unauffällig (Sinusrhythmus, keine Erregungsrückbildungsstörungen). Der Blutdruck blieb erhöht und die AP-Beschwerden persistierten. Das RTW-Team entschloss
sich zur Gabe von 2 Hüben Nitrospray.
Kurz nach Gabe des Nitrosprays klagte der Patient über Schwindel und der Blutdruck fiel auf ca. 80 mmHg systolisch. Der Patient wurde in Schocklage gebracht, ein 2. peripher-venöser
Zugang gelegt und rasch 1000 ml Vollelektrolytlösung infundiert. Hierunter waren die Symptome rasch rückläufig. Das RTW-Team vermutete ein Infarktgeschehen (NSTEMI) mit
rechtsventrikulärer Beteiligung und leitete ein erweitertes EKG ab (rechtsventrikulär/Hinterwand), welches unauffällig war.
Bei Eintreffen des NEF hatte der Patient eine stabile Hämodynamik und die AP-Beschwerden waren unverändert. Es erfolgte die Übergabe an den Notarzt mit der Schilderung des bisherigen Einsatzgeschehens und Äußerung des V.a. NSTEMI mit rechtsventrikulärer Beteiligung. Der Notarzt kritisierte die Volumengabe mit der Begründung "bei einem Herzinfarkt dürfe
kein Volumen gegeben werden." Der Hinweis auf den V.a. eine rechtsventrikuläre Beteiligung wurde nicht aufgegriffen und der NA entschloss sich zur Gabe von 80 mg Furosemid i.v.
Er sah keine Indikation für die Gabe von ASS/Heparin und Morphin. Der Patient blieb auf dem Transport stabil und wurde in die ZNA des nächstgelegenen Krankenhauses bei unveränderter Symptomatik transportiert.
In der Notaufnahme erfolgte die Übergabe des NA an einen Assistenzarzt. Der Patient hätte nichts und die Retter hätten über Ihren Kompetenzbereich hinaus gehandelt.
Im Verlauf und auf Nachfrage im aufnehmenden KH bestätigte sich der Verdacht auf NSTEMI mit rechtsventrikulärer Beteiligung.
Was war besonders gut?
- schnelle 12-Kanal-Ableitung
- mögliche rechtsventrikuläre Beteiligung/NSTEMI als Ursache für den Blutdruckabfall nach der Nitrogabe (Vorlastsenkung)

Was war besonders ungünstig?
- Furosemidgabe
- Die Übergabe des NA an die ZNA.
- fehlende Teamarbeit
- Die Einschätzungen des RTW-Teams wurden nicht aufgegriffen.
- Eine Nachbesprechung wurde von dem NA abgelehnt.

Wie häufig tritt ein Ereignis dieser Art auf?
nur dieses mal

Wer berichtet?
Rettungsdienstmitarbeiter / -mitarbeiterin

Berufserfahrung:
mehr als 2 Jahre



Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Dieser Fall hat in großen Teilen den Charakter einer Beschwerde ("Eine Nachbesprechung wurde von dem NA abgelehnt"). Die Unzufriedenheit (Frustration?) des RTW-Teams motivierte die Meldung, aber ein CIR-System ist der falsche Adressat. Eine Beschwerde darf mit der Darstellung der Sichtweise nur einer Partei nicht bewertet werden. In dem Fall waren Rettungswagenbesatzung, Notarzt und Krankenhaus beteiligt, Adressaten der Beschwerde wären entsprechend der Rettungsdienst- und der Krankenhausträger.
 
Meldungen mit Beschwerdecharakter sind keine Seltenheit in CIR-Systemen, aber "CIR-Systeme haben die Zielsetzung, unerwartete Ereignisse mit Sicherheitsrelevanz zu erfassen, diese zu analysieren und – wo sinnvoll – konstruktive Maßnahmen daraus abzuleiten. (...) Nicht dazu zählen nicht nachvollziehbare Entscheidungen einzelner Personen, sowie Meldungen über ungenügende Teamarbeit oder fehlende Kommunikation.“ (Auszug einer Mail an alle CIRS-AINS-Beauftragte). Auf Grund der Häufigkeit solcher Meldungen haben wir uns dazu entschlossen, diesen Fall repräsentativ einmalig kritisch zu beleuchten.
 
Die Meldung weist auf ein facettenreiches, latentes Systemproblem mit Nähe zu einem fundamentalen Systemkonflikt hin: Mit der Umfangszunahme von Kompetenzen und Qualifikation der NotSan sind Meinungsverschiedenheiten mit dem fachlich im Notarzteinsatz weisungsbefugten Notarzt häufiger geworden. Dieses Problem lässt sich durch ein CIR-System nicht ausräumen und ist durch Teamarbeit nur begrenzt beherrschbar. Die medizinischen Entscheidungen im Notarzteinsatz sind kein Gegenstand demokratischer Entscheidungsprozesse. Der Fall schildert kein sicherheitsrelevantes Systemproblem, da der individuelle Patientenzustand, Diagnosen, Kenntnisse und Fertigkeiten und deren Wahrnehmung eine Schüsselrolle spielen. Es ist überwiegend auch kein CRM-Fall, der allein durch allgemein gültige Teamfaktoren bestimmt wurde.
 
 
 
Nun zum konkreten Fall:
Von einer zuerst eingetroffenen RTW-Besatzung wurde ein Patient mit einem akuten Thoraxschmerz (nicht Angina pectoris) vorgefunden, der sonst keine offenkundige vitale Bedrohung, sondern allein einen erhöhten Blutdruck aufwies. Bei einem akuten Thoraxschmerz haben nur rund 25% der Patienten eine KHK, und die Spannweite der möglichen Diagnosen ist sehr groß und präklinisch kaum sicher zu erfassen.
 
Die RTW-Besatzung legte einen Zugang und verabreichte sublingual Glyceroltrinitrat. Dies mutet zunächst wie eine vorweggenommene ärztliche Therapie an und ist medizinisch objektiv risikoreich (u.a. Pseudoangina bei Aortenstenose mit akuter Vor- und Nachlastsenkung oder auch eine Rechtsherzinsuffizienz jedweder Genese).
 
Für die ergriffenen Maßnahmen sind zwei mögliche korrekte Rechtgrundlagen denkbar: Der rechtfertigende Notstand nach § 34 StGB (Rettungsassistent, sog. Notkompetenz) bzw. § 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG (nur für NotSan, "1c-Maßnahme", faktisch auch Notkompetenz) oder § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG (nur für NotSan, "2c-Maßnahme"). Anhand der vorliegenden Schilderung ist es äußerst unwahrscheinlich, dass ein rechtfertigender Notstand zur invasiven Maßnahme (Infusionszugang) und Medikamentengabe (Glyceroltrinitrat) vorlag.
 
Je nach Bundesland und ggf. Rettungsdienstträger kann eine SOP und Delegation zu einer 2c-Maßnahme "Thoraxschmerz" einschließlich der invasiven Maßnahme und Medikamentengabe vorgelegen haben, die die RTW-Besatzung einem Algorithmus folgend ggf. zutreffend angewandt hatte.
 
Der hypotone Schwindel des Patienten nach der Gabe von Glyceroltrinitrat stellt sich – wenn man häufige Dinge als solche zuerst in Betracht zieht – zunächst als vasodilatatorischer Präkollaps dar. An der Bewertung des weiter bestehenden Thoraxschmerzes ändert sich zu diesem Zeitpunkt nichts. Einen rechtsventrikulären Infarkt als Ursache zu vermuten, ist – wenn die Angaben zum Patientenzustand so zutreffen – medizinisch hochgradig abwegig.
 
Die Kontraindikation von Glyceroltrinitrat bei einem rechtventrikulären Infarkt ist ein weit verbreitetes Prüfungswissen des NotSan. Der Umkehrschluss ist – auch bei der geschilderten Kenntnis der Pathophysiologie – allerdings unzulässig: Dass die Gabe von Glyceroltrinitrat zu einer starken Kreislaufwirkung geführt hatte, ist keinesfalls ein diagnostisches Kriterium für einen rechtsventrikulären Infarkt. Die RTW-Besatzung ging trotzdem von der Verdachtsdiagnose eines NSTEMI aus. Der NSTEMI ist allerdings keine präklinische Diagnose, sondern erfordert eine Labordiagnostik und kann im Regelfall erst innerklinisch und im Verlauf gestellt werden.
 
Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Stellung einer Diagnose ausschließlich durch approbierte Ärzte erfolgen darf. Dieser Vorbehalt wird aus der problematischen Diagnosestellung wie bei einem rechtsventrikulären NSTEMI leicht ersichtlich.
 
Letztlich hat die RTW-Besatzung zur Behandlung der selbst verursachten Nebenwirkung des Glyceroltrinitrats etwas in den meisten Fällen Wirksames getan: die Volumengabe und die Autotransfusion. Hätte ein hämodynamisch relevanter rechtsventrikulärer Infarkt zum genannten Zeitpunkt vorgelegen, wäre das am Zustandsbild des Patienten abzulesen gewesen. Dann hätten außerdem eine Menge von mehr als ca. 250 ml Flüssigkeit und die Autotransfusion den Patienten in die Dekompensation getrieben.
 
Weiter im Fall: Die RTW-Besatzung folgte ihrem Verdacht und erweiterte die EKG-Diagnostik. Nach dem vorliegenden Bericht ergab sich kein Hinweis auf eine Ischämie.
 
Nun traf der Notarzt ein. Ihm wird das bisher Geschehene, die Diagnostik und die erstaunliche Verdachtsdiagnose übergeben. Objektiv präsentiert sich ein Patient mit Thoraxschmerz und einer behandelten Komplikation einer Medikamentengabe. Die Diagnostik war durchgeführt und ohne pathologischen Befund.
An dieser Stelle werden die Aspekte "Kommunikation" und "Wahrnehmung" bedeutsam. Die Konfrontation mit der zu diesem Zeitpunkt abwegigen Verdachtsdiagnose öffnete für den Notarzt psychologisch die Falle eines Fixierungsfehlers. Was möchte denn die RTW-Besatzung mit diesem Kolibri, obwohl da eine Taube sitzt? Wenn wir uns erinnern, dass hier auch eine Beschwerde vorliegt, kann auch die Wahrnehmung des Notarztes zum Patientenzustand eine andere gewesen sein. Wir wissen es nicht, und dies ist auch kein veränderbares systemisches Problem.
 
Allerdings bestimmte gegenseitiges Unverständnis von nun an das Feld. Der Notarzt ließ sich auch durch Insistieren nicht auf die abwegige Verdachtsdiagnose ein, handelte dann allerdings ebenfalls nach Sachverhaltsschilderung nicht klar nachvollziehbar: Furosemid in hoher Dosierung passte weder zum Zustandsbild unklarer, akuter Thoraxschmerz noch zur Verdachtsdiagnose des rechtsventrikulären NSTEMI ohne Dekompensation. Nach der Fallschilderung ergibt sich auch keine zwingende Indikation zu einer Antikoagulation, und auch ein Erfordernis zur Schmerztherapie ist nicht objektiviert. Hatte also der Notarzt eine andere Wahrnehmung der Situation – oder lag eine andere Situation vor? Hier sind die Grenzen von CIRS erreicht: Hier soll eine komplexe Einzelfallentscheidung hinterfragt werden. Dies ist keine Aufgabe von CIRS.
 
Der Konflikt über die Patientenbehandlung setzte sich wohl bis zur Übergabe in die ZNA fort. Dort wurde – möglicherweise als Gegenübertragung des Konfliktes – eine erste Prognose abgegeben, dass der Patient keine relevante Erkrankung habe.
 
Dass der Patient in der Folge tatsächlich einen NSTEMI mit rechtsventrikulärer Beteiligung entwickelt, muss als zufälliges und tragisches Ergebnis gelten und bestätigt keinesfalls, dass die vom RTW-Team gestellte Verdachtsdiagnose zum Zeitpunkt des Einsatzes zu stellen gewesen wäre.
 
Zusammenfassend zeigt der Fall somit kein konkretes systemisches Problem mit durch ein CIRS beeinflussbarem Verbesserungspotential auf. Individuell fehlgeschlagene Kommunikation hat zwar einen systemischen Charakter – im Mikro-System des konkret beteiligten Teams. Eine anonyme CIRS-Meldung ist damit ohne relevante Chance auf individuelle Verbesserung der Kommunikation in der Zukunft. Solange individuelle Faktoren einen Beinahe-Zwischenfall oder Zwischenfall beherrschen, ist eine CIRS-Meldung vergebens.
 
Der Fall zeigt allerdings, dass die verbesserte Qualifikation von Notfallsanitätern auch zu Konflikten und zu Erscheinungen im Zusammenhang mit Selbstüberschätzung führen kann. Die mitunter unzureichende Qualitätssicherung bei der Erbringung der notärztlichen Leistung befeuert diese Konflikte zusätzlich. Letztlich ist die Ausformung des Berufsbildes Notfallsanitäter noch im Gange. Die Notfallsanitäter müssen die Grenzen ihres Wirkens auch in der Praxis erfahren. Ein wichtiger Punkt ist jedoch die notärztliche Aus- und Fortbildung: Sie muss mit der Weiterentwicklung des Rettungsdienstes Schritt halten.
 
Für den eiligen Leser hier die Kurzversion:
  • Beschwerden sind an die zuständigen Stellen zu richten und sollten kein Teil eines CIRS-Falles sein. Sie erfordern die Stellungnahme aller Beteiligten.
  • CIRS ist kein Werkzeug, individuelle Entscheidungen und Teamprobleme zu erörtern.
  • Die RTW-Besatzung hat eine Medikamentennebenwirkung durch Glyceroltrinitrat verursacht und erfolgreich behandelt.
  • Sofern die die RTW-Besatzung einem örtlich gültigen 2c-Algorithmus folgte, liegt keine Überschreitung vorgesehener Maßnahmenkompetenzen vor.
  • Die Besatzung begründet den Zwischenfall mit einer unplausiblen und unzulässigen Verdachtsdiagnose, möglicherweise auf der Grundlage erworbener pathophysiologischer Kenntnisse zur Gabe von Glyceroltrinitrat.
  • Es waren typische Kommunikationsprobleme in Zusammenhang mit dem formalen Kompetenzgefälle im Team festzustellen.
  • Die notärztliche Therapie ist aus der Fallschilderung nicht vollständig nachvollziehbar. Da eine Beschwerde vorliegt, fehlt zu einer sinnvollen Beurteilung die Wahrnehmung des Notarztes.
  • Letztlich wäre die nach Zustandsbild korrekte Arbeitsdiagnose akuter Thoraxschmerz gewesen.
  • Im Nachhinein trat das präklinisch nicht diagnostizierbare Krankheitsbild ein. Während des Einsatzes sprachen alle geschilderten Fakten gegen die Vermutung.
 
 
Die Analyse aus Sicht des Juristen
Der Grundsatz, dass die Stellung einer Diagnose und die darauf aufbauende therapeutische Entscheidung als Ausübung ärztlicher Heilkunde dem approbierten Arzt vorbehalten ist, wird weder durch die Regelung in § 4 Abs. 2 Ziff. 1 c Notfallsanitätergesetz („Notfallkompetenz“) noch durch die Regelung in § 4 Abs. 2 Ziff. 2 c Notfallsanitätergesetz („Vorabdelegation“) in Frage gestellt.
 
§ 4 Abs. 2 Ziff. 1 c NotSanG erlaubt den Notfallsanitätern keine Diagnosestellung im ärztlichen Sinn, sondern, entsprechend den Ausbildungsvorschriften, eine Arbeitsdiagnose im Sinn einer „Situationserkennung nach relevanten Leitsymptomen“ (siehe Bundesverband ÄLRD Deutschland e.V.: Rechtssicherheit – nicht nur für Notfallsanitäter/-innen, Kapitel 3.4 S. 22) und darauf aufbauend „angemessene medizinische Maßnahmen der Erstversorgung zu ergreifen“ bis zum Einsatz eines Notarztes, wenn „ein lebensgefährlicher Zustand vorliegt oder wesentliche Folgeschäden zu erwarten sind“. Die Ausführungen in der anästhesiologischen Analyse, dass „keine offenkundige vitale Bedrohung“ vorlag und die „Spannweite der möglichen Diagnose sehr groß und präklinisch kaum sicher zu erfassen“ sind, spricht dafür, dass die Voraussetzungen nach § 4 Abs. 2 Ziff. 1 c NotSanG („Notfallkompetenz“) nicht vorlagen. Das heißt, es scheint keine Legitimation zur Verabreichung von Glyceroltrinitrat gegeben zu haben. Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob die Gabe nicht selbst bei Vorlage der Voraussetzungen der Notfallkompetenz als „kontraindiziert“ und damit behandlungsfehlerhaft zu werten wäre.
 
Ob und inwieweit eine „Vorabdelegation“ nach § 4 Abs. 2 Ziff. 2 c NotSanG die Notfallsanitäter zur Anlage eines Zugangs und insbesondere zur Verabreichung des Glyceroltrinitrats berechtigt haben könnte, wissen wir nicht, scheint aber unwahrscheinlich, sofern die Gabe des Medikaments bei Verdacht auf rechtsventrikulären Infarkt kontraindiziert ist.
 
Von welcher Verdachtsdiagnose der Notarzt ausging, bleibt offen, ebenso, ob die Medikation zumindest vertretbar war. Letztlich sind dies aber fachliche Fragen, die zu beurteilen der Jurist nicht berufen ist.
 
Der Sachverhalt zeigt sehr deutlich, dass die zunehmende fachliche Qualifizierung der Notfallsanitäter nach wie vor den ärztlichen Heilkundevorbehalt nicht in Frage stellt und fachlich auch nicht in Frage stellen kann. Weder die „Notfallkompetenz“ noch die „erweiternden Delegationsmöglichkeiten“ schaffen ein Konkurrenzverhältnis zwischen Notfallsanitäter und Notarzt. Die Ausbildungsvorschriften wollen vielmehr notfallsanitätergerechte Heilkundeausübung dort ermöglichen, wo qualifizierte Ausbildung die Durchführung „angemessener“ – und beherrschter – medizinischer Maßnahmen eine Erstversorgung des Patienten bis zum Eintreffen einer Notärztin/eines Notarztes ermöglicht und so einer Verschlechterung des Zustandes des Patienten in einer akuten Gefahrensituation begegnet werden kann.
 
Dies setzt – auch unter haftungsrechtlichen Aspekten – eine sorgfältige Analyse der Situation vor Ort und der eigenen Möglichkeiten und Grenzen durch den Notfallsanitäter voraus. Das Notfall-sanitätergesetz versteht den Notfallsanitäter als partnerschaftliche Ergänzung, nicht aber als Konkurrenz zum Notarzt. Letztlich lässt das NotSanG – auch unter Berücksichtigung der aktuellen Diskussion um ergänzende Formulierungen zur Notfallkompetenz – den (not-)ärztlichen Heilkundevorbehalt unberührt. Je weniger dringlich die Situation vor Ort, umso weniger empfiehlt es sich, die Grenzen des fachlich und damit rechtlichen zu erproben.

 

Take-Home-Message

  • Das NotSanG lässt, unbeschadet der „Notfallkompetenz“ und der Möglichkeit „Vorabdelegation“, den ärztlichen Heilkundevorbehalt unberührt.


Autoren:
Prof. Dr. med. T. Birkholz, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Prof. Dr. med. M. Hübler, Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinik Carl Gustav Carus, Dresden
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg

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