Fall des Monats Quartal 4/2021 Drucken
17.12.2021

CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen

Kritische Dienstbesetzung: Ein Anästhesist soll die Notfallversorgung und den Kreißsaal abdecken

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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Kritische Dienstbesetzung: Ein Anästhesist soll die Notfallversorgung und den Kreißsaal abdecken

Zuständiges Fachgebiet:
Anästhesiologie

Wo ist das Ereignis eingetreten:
Krankenhaus - OP

Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag

Versorgungsart:
Notfall

ASA-Klassifizierung:
ASA I

Patientenzustand:
Das Ereignis passierte im Dienstgeschehen. Im Hause sind planmäßig ein Anästhesist und eine Anästhesiepflegekraft anwesend. Eine Notfalloperation wird begonnen.
In der Geburtshilfe sind mehrere Erstgravida mit potentiellem Wunsch nach PDK zur Geburtserleichterung. Ebenfalls ist bereits mindestens eine Patientin mit liegendem PDK im Kreißsaal.
Vor Einleitung des Notfallpunktes erfolgte ein Anruf in der Geburtshilfe, ob aktuell alles okay sei, da der einzige Anästhesist im Hause nun bei einer Narkose gebunden sei. Aktuell sei alles stabil. Man einigt sich auf eine erneute Rücksprache nach der Narkose, bevor der nächste Notfallpunkt zur Versorgung begonnen wird.

Wichtige Begleitumstände:
Für Notfälle in der Gynäkologie (PDK-Anlage; Sectio, Unterstützung bei der Neugeborenen-Reanimation) ist der anästhesiologische Dienst zuständig. Es gibt einen ärztlichen Rufdienst Anästhesie (1 Facharzt) der 30 min bis zum Eintreffen Zeit hat, aber keinen Rufdienst für die Anästhesiepflege. Im gegebenen Fall konnte der Rufdienst in gut 15 min das Klinikum erreichen. Zusätzliches OP-Personal gibt es nicht in Rufbereitschaft.
Einen Pädiater gibt es nicht im Hause, vielmehr hat der Baby-Notarzt aus der nächsten Klinik mit Neonatologie (PICU) 25 km Anfahrt aus der Klinik, bzw. wenn er außerhalb der Dienstzeiten alarmiert wird je nach Wohnort noch länger.
Auf der Intensivstation ist im Dienst ein Rotationsassistent aus der Inneren, Chirurgie oder Anästhesie eingeteilt. Im gegebenen Fall war dies ein Assistent im 1. Weiterbildungsjahr welcher nicht aus der Anästhesie kam.
Im Notfall sieht der hausinterne Plan vor, dass der diensthabende Anästhesist die laufende Narkose verlassen könnte, und der diensthabende Arzt der Intensivstation die Narkose weiterführen möge.

Fallbeschreibung:
Während der laufenden Narkose kam ein Anruf aus der Geburtshilfe, dass eine Patientin aus dem Kreißsaal ein pathologisches CTG habe und eine dringliche Sectio indiziert sei. Schnitt solle nach Möglichkeit in 14 min sein. Gleichzeitig wird der diensthabende Hintergrundarzt der Anästhesie angerufen mit der Bitte sofort in die Klinik zu kommen. Die Ankunftszeit des Hintergrundarztes in der Klinik wird auf ca. 15 min geschätzt. Auch das OP-Team aus dem Saal mit der laufenden OP wird für die Sectio benötigt, so dass zunächst die freie OP-Pflegekraft (Springer) die Sectio vorbereitet.
Der anwesende Narkosearzt verbleibt bei der laufenden Narkose und die Anästhesiepflegekraft geht in den Sectio-Saal (im selben OP Trakt), um die Vorbereitungen zu treffen. Nach 5 Minuten erfolgt ein neuerlicher Anruf aus dem Kreißsaal, dass der Anästhesist (Anmerkung: der erwartete Hintergrund-Anästhesist) in den Kreißsaal kommen solle, da nun doch eine assistierte vaginale Entbindung versucht würde. Die Anästhesiepflegekraft ging umgehend in den Kreißsaal (anderes Stockwerk, anderer Gebäudeteil). Nach weiteren 5 min erfolgt ein neuerlicher Anruf, dass das Neugeborene wahrscheinlich 'schlecht' sei, und man die Anästhesie zur Versorgung (Neugeborenen-Reanimation) benötige, wenn das Kind entwickelt sei (war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren). Der Hintergrund-Anästhesist befand sich zu diesem Zeitpunkt gerade im Haus und begab sich umgehend in den Kreißsaal.

Was war besonders gut?
- Es ist zum Glück niemand zu Schaden gekommen.
- Der Hintergrund-Dienst der Anästhesie konnte rechtzeitig eintreffen und sich um Mutter und Kind im Kreißsaal kümmern.
- Gute Kommunikation zwischen den Teammitgliedern OP-Pflege, Chirurg-OP, Anästhesie-Team.

Was war besonders ungünstig?
- Eine laufende Narkose, die definitiv nicht an einen jungen, nicht-anästhesiologischen Assistenten im 1. Weiterbildungsjahr, der auf der ICU Dienst hat, delegiert werden kann.
- Ein paralleler Notfall in der Geburtshilfe mit drohender vitaler Bedrohung des Kindes bzw. eine dringliche Sectio, die parallel zur Neugeborenenversorgung hätte stattfinden sollen.
- Der diensthabende Anästhesist im Hause sieht sich mit dem Dilemma konfrontiert: verlasse ich eine Narkose mit potentiell fatalen Folgen für den Patienten, um in den Kreißsaal zu gehen (weiter Weg), oder bleibe ich bei dem Patienten und Mutter/Neugeborenes müssen warten. Diese Verzögerung könnte jedoch ebenfalls fatale Folgen haben.
Wäre die wirklich dringliche Sectio oder sogar Not-Sectio im Kreißsaal notwendig gewesen, wäre der Operateur mit dem OP-Assistenten (nicht-ärztliches Personal) ohne OP-Personal alleine bei der Narkose im OP gestanden. Der Anästhesist hätte sich entscheiden müssen, welchem Patienten er sich widmet.

Wo sehen Sie die Gründe für dieses Ereignis und wie hätte es vermieden werden können?
Für diese, regelmäßig vorkommenden Ereignisse (Notfälle in der Geburtshilfe bei laufenden Narkosen) besteht eine viel zu dünne Vorhaltung von adäquat geschultem Personal.
Die organisatorisch implizit vorgeschriebene Notwendigkeit, dass der diensthabende Anästhesist die Patienten in dem eintretenden Notfall triagiert, da auf jeden Fall ein Patient kurzfristig (max. bis zum Eintreffen des Hintergrund-Arztes) allein gelassen wird.

Wie häufig tritt dieses Ereignis ungefähr auf?
monatlich

Wer berichtet?
Arzt / Ärztin, Psychotherapeut/in



Die Analyse aus Sicht des Anästhesisten
Auch bei adäquater Personaldecke kann sich der Anästhesist im Dienstgeschehen mit einer Situation konfrontiert sehen, in der alle regulären Kräfte gebunden sind und ein weiterer Notfall versorgt werden muss. Während eine solche Konstellation bei größeren Abteilungen mit mehreren anwesenden Diensten eher selten eintreten dürfte, berichtet der Melder aus einem Haus, in welchem lediglich ein Anästhesist und eine Anästhesiepflegekraft für die Notfallversorgung vor Ort zuständig sind. Die Vorgehensweise im Falle einer parallelen Anforderung zu einem zweiten Notfall scheint organisational festgelegt worden zu sein; aus der Meldung wird jedoch nicht ersichtlich, ob es sich bei dem „hausinternen Plan“ um eine informell entstandene Vorgehensweise handelt, oder ob es hierfür eine entsprechende schriftliche Dienstanweisung des anästhesiologischen Chefarztes gibt. Bedenklich erscheint die Angabe des Melders, dass es sich bei dem geschilderten Fall nicht um ein seltenes Ereignis handelt, sondern die in dem Fall beschriebene Parallelität von Notfällen "monatlich" auftritt.
 
Drei Aspekte des Falles erscheinen aus Perspektive des Klinikers und der Sicherheitsforschung bemerkenswert:
 
  1. Die organisational eingeplante Notwendigkeit, einen Patienten in Narkose zu verlassen um einen weiteren Notfall betreuen zu können und hierzu die Verantwortung für anästhesiologisches Handeln an fachfremde Assistenzärzte oder den Operateur zu delegieren.
  2. Die Nichtgewährleistung einer lückenlosen anästhesiologischen Versorgung von geburtshilflichen Patientinnen trotz klarer Vorgaben einer interdisziplinären Vereinbarung.
  3. Der erkennbare Drift des Systems „in Richtung Versagen“, welcher dadurch entsteht, dass Menschen durch situative Anpassung und variables Handeln auch unter ungünstigen Bedingungen noch Sicherheit schaffen und sich dadurch der Grenze sicheren Handelns nähern.
Zu 1.)
Die Organisationsverantwortlichen haben über die Rekrutierung des Intensivarztes eine (vermeintlich) gute Lösung gefunden, die bei zwei zeitgleichen Notfällen eine Überbrückung gewährleisten soll, bis der anästhesiologische Rufdienst binnen 30 Minuten die Klinik erreicht hat. Dieses Konstrukt setzt voraus, dass jederzeit gewährleistet ist, dass a) der Intensivarzt seine Station verlassen und b) der Intensivarzt den anästhesiologischen Facharztstandard gewährleisten kann. Ersteres kann guten Wissens nie garantiert werden, letzteres wäre an dem betreffenden Tag nicht der Fall gewesen. Falls der Intensivarzt auf Station gebunden gewesen wäre, hätte der Anästhesist die Überwachung des anästhesierten Patienten dem Operateur und dem OP-Assistenten übergeben müssen, um selbst in den Sectio-OP bzw. den Kreißsaal zu eilen oder bei Problemen mit dem augenblicklich betreuten Patienten die Versorgung der Gebärenden und des Neugeborenen ablehnen müssen – ein ethisches juristisches Dilemma. Keinesfalls sollte jedoch ein derartiges Dilemma (bei erwartbarer Koinzidenz von Notfällen „triagieren“ zu müssen) durch organisationale Vorgaben dem diensthabenden Anästhesisten aufgebürdet werden. Die Verantwortlichen seien an dieser Stelle nachdrücklich darauf hingewiesen, dass sie jedem Patienten und jeder Gebärenden zu jedem Zeitpunkt –gerade auch bei organisational eingeplanten „Überbrückungslösungen“ - eine Versorgung nach Facharztstandard schulden. Bezüglich dieser Thematik soll auf unseren Fall des Monats Oktober 2015 [1] hingewiesen werden, in welchem eine vergleichbare Vorgehensweise juristisch bewertet wird. Hier heißt es: "Es besteht kein Zweifel, dass auch die modernen Anästhesieverfahren einen mit Risiken verbundenen Eingriff in die körperliche Integrität des Patienten darstellen. Die Durchführung des Anästhesieverfahrens ist an die ärztliche Approbation gebunden und setzt spezifische Kenntnisse und Erfahrungen voraus ("Facharztstandard"). Dem Anästhesisten obliegt dabei nicht nur die Durchführung des eigentlichen Anästhesieverfahrens, sondern auch die Überwachung und Aufrechterhaltung, gegebenenfalls die Wiederherstellung der vitalen Funktionen während des Eingriffs. Mit der Übernahme der Behandlung des Patienten wird der Anästhesist zum "Garanten" für diesen Patienten. Dies bedeutet im Grundsatz auch, dass er bei dem Patienten zu bleiben hat, dessen Versorgung er einmal übernommen hat. Dies schließt es allerdings nicht aus, dass "in bestimmten, eng begrenzten Phasen eines Anästhesieverfahrens die Überwachung von Patient und Gerät durch eine speziell unterwiesene bzw. weitergebildete Anästhesiepflegekraft erfolgen kann" – so die Entschließung des Berufsverbandes von 1989 zu "Zulässigkeit und Grenzen der Parallelverfahren in der Anästhesiologie". Allerdings nur unter den dort beschriebenen, engen Kautelen. Wird der Anästhesist, der eine Narkose betreut, gleichzeitig zu einem anderen "Notfall" gerufen, so ist dies aus juristischer Sicht eine "Pflichtenkollision". Unbeschadet des Grundsatzes, dass der Anästhesist zunächst bei dem Patienten zu bleiben hat, dessen Versorgung er einmal übernommen hat, wird er zu prüfen haben, ob er die "Überwachung von Patient und Gerät" einer anderen qualifizierten Kraft übergeben kann, ohne den Patienten konkret zu gefährden, weil seine Hilfe an anderer Stelle dringender benötigt wird. Dabei hat er jedoch alle Umstände des Einzelfalles sorgfältig zu erforschen und abzuwägen, soweit es die dafür zur Verfügung stehende Zeit erlaubt, um zu prüfen, ob und welche Hilfe erforderlich ist. Insbesondere hat er zu prüfen, ob seine Hilfe unbedingt erforderlich ist oder ob bei dem anderen "Notfall" fremde Hilfe nicht ebenso gut möglich ist."
 
 
Zu 2.)
Ein besonders problematischer Aspekt der geschilderten Personalplanung ist die Nicht-Gewährleistung einer lückenlosen Verfügbarkeit eines Anästhesisten für die Geburtshilfe. Wir dürfen hier auf die "Vereinbarung über die Zusammenarbeit in der operativen Gynäkologie und in der Geburtshilfe" [2] der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin und des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten mit der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und dem Berufsverband der Frauenärzte verweisen, welche im Schadensfall als Maßstab für die organisationalen Vorgaben an der meldenden Einrichtung angesehen werden dürften. Hier ist in Kapitel 2 “In der Geburtshilfe“ zweifelsfrei zu lesen:
 

"Spezielle fachliche und organisatorische Probleme ergeben sich bei der geburtshilflichen Anästhesie. Die erforderliche enge Kooperation zwischen Geburtshelfern und Anästhesisten setzt voraus, dass für geburtshilfliche Eingriffe stets ein Anästhesist verfügbar ist. Es ist Aufgabe des Krankenhausträgers, durch eine ausreichende personelle Besetzung der Anästhesie diese Voraussetzung zu schaffen.

 

2.1 Personalbedarf

Die anzustrebende volle anästhesiologische Versorgung der geburtshilflichen Fachabteilung erfordert einen 24-stündigen Anästhesie-Bereitschaftsdienst an sieben Tagen in der Woche. Der hierfür benötigte, besonders auszuweisende Personalbedarf hängt von der jährlichen Geburtenzahl und dem Anteil der Anästhesieleistungen ab. Unabhängig von der Frequenz muss gewährleistet sein, dass bedarfsweise ein Anästhesist innerhalb von zehn Minuten zur Verfügung steht. Die vertragschließenden Berufsverbände und wissenschaftlichen Gesellschaften betonen nachdrücklich, dass der Krankenhausträger aufgrund seiner Organisationspflicht für eine ausreichende anästhesiologische Versorgung der Geburtshilfe sorgen muss."

 
Da der Melder angibt, dass sich ein vergleichbares Ereignis mit monatlicher Häufigkeit ereignet, stellt sich in der Tat die Frage, ob die Personalbesetzung durch eine "viel zu dünne Vorhaltung von adäquat geschultem Personal" gekennzeichnet ist. Sind solche Pflichtenkollisionen nicht die Ausnahme, dann spricht viel dafür, dass durch entsprechende organisatorische Maßnahmen, insbesondere durch das Vorhalten einer entsprechenden Personalreserve, Vorsorge für die Bewältigung von zu erwartenden Pflichtenkollisionen getroffen werden kann – und muss. Aufgrund der hohen Relevanz sollte die interdisziplinäre Vereinbarung den Entscheidungsträgern der Klinik nochmals nachdrücklich zur Kenntnis gebracht werden. Da die Rechtsprechung, insbesondere auch die des Bundesgerichtshofs, keinen Zweifel daran gelassen hat, dass die Sicherheit der Patienten nicht hinter ökonomischen Erwägungen zurückstehen darf, kann im Schadensfall der Vorwurf eines Organisationsverschuldens konstatiert werden und die Verantwortlichen müssten erklären, wie sie trotz anderslautender Empfehlungen unter den an ihrem Hause festgelegten Rahmenbedingungen die Patientensicherheit zu jedem Zeitpunkt als gesichert ansehen konnten.
 
 
Zu 3.)
Eine wesentliche Erkenntnis der modernen Sicherheitsforschung besteht darin, dass die Ursachen von Zwischenfällen weniger in unerkannten Schwachstellen von Sicherheitsbarrieren liegen („Schweizer Käse Modell“) als vielmehr in einem langsamen Abgleiten eines Systems in Richtung der Grenze sicheren Arbeitens („Drift in Richtung Versagen“: Rasmussen 1997 [3]; Cook & Rasmussen 2005 [4], Dekker & Pruchnicki 2003 [5]; Abbildung 1). Nach diesem Modell sind Mitarbeitende in komplexen Systemen wie unserem Gesundheitswesen ständig dabei, sich den aktuellen Gegebenheiten durch variables Handeln anzupassen, um dadurch Ressourcen- und Zielkonflikte ausbalancieren zu können. Ziele, die es zu vereinbaren gilt wären hierbei wirtschaftliche Aspekte, die Grenzen der persönlichen Arbeitsbelastung, die (durch Leitlinien und Empfehlungen vorgegebenen) Grenzen sicheren Arbeitens, die Machtstrukturen einer Organisation und die aktiven Bemühungen um Patientensicherheit. Konkret erfolgt diese Anpassung im vorliegenden Fall beispielsweise dadurch, dass man vorab den Kreißsaal kontaktiert um die Wahrscheinlichkeit für eine PDK-Anlage oder eine Sectio abschätzen zu können und vereinbart, sich nach der Notfalloperation erneut abzustimmen. So soll gewährleistet werden, dass auch bei nur einem Anästhesisten vor Ort die Wahrscheinlichkeit für zwei konkurrierende Ereignisse niedrig bleibt. Da die Organisation durch ihre Personalstruktur den Handlungsspielraum für sicheres Arbeiten eingeengt hat, sollen darüber hinaus interne Festlegungen sicherstellen, dass auch bei unerwarteter Koinzidenz von Notfällen Patienten anästhesiologisch versorgt werden können. Auch wenn es hierbei regelhaft zur Überschreitung einer Grenze kommt, die in interdisziplinären Vereinbarungen festgelegt wurden (siehe Punkt 2.), muss sich diese Grenzübertretung nicht unmittelbar negativ bemerkbar machen: Engagement, Teamarbeit, Flexibilität und klinische Erfahrung der Betreffenden führen auch unter diesen Bedingungen zu erfolgreichem Handeln. Was sich für die Organisation jedoch bemerkbar macht ist die Möglichkeit einer Kosteneinsparung, sodass der ökonomische Druck erhalten bleibt und Handeln zunehmend im Grenzbereich sicheren Handelns stattfindet: bisher ist immer alles gut gegangen und die Ausnahme wird zur neuen Norm. Erst eine Konstellation wie die im Fallbeispiel beschriebene (eine OP, eine Sectio und eine Neugeborenenversorgung müssen zeitgleich betreut werden) bei welcher der Zufall nicht hilfreich zur Seite steht (der Hintergrunddienst benötigt nur 15 und nicht 30 Minuten) würde die Grenze akzeptabler Systemperformance überschreiten und zur Patientenschädigung führen.

 

Abbildung 1: Der „Drift in Richtung Versagen“: Der Bereich in dem Mitarbeitende ihr Handeln variieren, wird durch die Notwendigkeit wirtschaftlich zu arbeiten, durch persönliche Belastungsgrenzen, durch Machtverhältnisse innerhalb der Organisation und durch schriftlich fixierte Grenzen sicheren Arbeitens begrenzt. Die handelnde Person erlebt diese Einflusskräfte als ökonomischen Druck, als unbewusstes Streben nach möglichst effizienten Arbeitsabläufen und als „Machtspiele“ innerhalb der Organisation. Diese Kräfte drängen in Richtung der Grenze sicheren Arbeitens, wie sie in SOPs und Leitlinien niedergelegt sind (oben). Das aktive Bemühen um mehr Patientensicherheit wirkt diesen Kräften entgegen, kann jedoch ein Abdriften in Richtung Grenze sicheren Arbeitens nicht immer verhindern . Da ein Überschreiten dieser Grenze ‚nicht unmittelbar zu einem Schaden führt, kommt es immer häufiger zu einer Grenzüberschreitung ƒ, die nach einiger Zeit normal wird „(unten links). Da die Einflusskräfte -und hier insbesondere der ökonomische Druck- jedoch auch unter geänderten ‚Normalbedingungen’ nicht nachlassen …kann ein erneutes Nachgeben zu einem Überschreiten der akzeptablen Systemperformance und damit zu einem Unfall führen (unten rechts). (Aus: St.Pierre, Hofinger: Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin; S.56. Mit freundlicher Genehmigung des Springer Nature Verlags [6]).


Die Analyse aus Sicht des Juristen
Nach § 630a Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hat die Behandlung des Patienten nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen. Wie die Bundesregierung in der Begründung zu dieser Vorschrift deutlich hervorgehoben hat, obliegt es den ärztlichen Fachgebieten, den in ihrem Fachgebiet geltenden Standard insbesondere etwa durch Leitlinien – nichts anderes gilt aber auch für sonstige Empfehlungen und Verlautbarungen – zu definieren. Fachliche Verlautbarungen, die den im Fachgebiet geltenden Standard definieren, sind, wie die gesetzliche Regelung deutlich macht, „verbindlich“.
 
Zudem hat die Rechtsprechung wiederholt klargestellt, dass dem Patienten innerhalb und außerhalb der Regeldienstzeiten eine Versorgung geschuldet wird, die qualitativ dem zu entsprechen hat was ein berufserfahrener Facharzt des jeweiligen Gebietes im konkreten Fall zu leisten imstande ist. (sogenannter „Facharztstandard“). Die Gewährleistung dieses Facharztstandards setzt entsprechende qualitative, aber auch quantitative Ressourcen voraus, verlangt also nicht nur Ärzte mit entsprechenden Kenntnissen und Fertigkeiten, sondern auch eine Personalausstattung, die zu jedem Zeitpunkt eine Versorgung nach diesem Standard durch eine hinreichende Zahl von qualifizierten Ärzten garantiert.
 
Der Facharztstandard fordert also auch eine „standardgerechte“ Personalreserve.
 
Welchen Ansprüchen eine standardgerechte Personalausstattung vor dem Hintergrund von Behandlungsqualität und Patientensicherheit zu genügen hat, haben BDA und DGAI in der Verlautbarung „Eckpunkte zur ärztlich-personellen Ausstattung anästhesiologischer Arbeitsplätze in Krankenhäusern“ festgelegt. Dort wird  u.a. festgelegt (S. 150):
 
„Leistungs- bzw. fallbezogene Doppelbesetzungen
Um eine Differenzierung der Kliniken entsprechend ihrem speziellen Leistungsspektrum und dem dafür ggf. erforderlichen Personalmehraufwand zu gewährleisten, sind anhand der Leistungsmethode zudem folgende Spezifika in der Personalbedarfskalkulation …     zusätzlich zu berücksichtigen:
Leistungs- bzw. fallbezogene Doppelbesetzungen sind für folgende Eingriffe grundsätzlich notwendig und auch bei den Bereitschaftsdienststrukturen einzuplanen:
 
• Neonatal- und Säuglingschirurgie (bis 12 Monate)

• Sectio caesarea, soweit die Neugeborenen-Versorgung seitens der Anästhesiologie durchgeführt wird oder diese notwendig wird
• …“
 
Dementsprechend verlangt die „Vereinbarung über die Zusammenarbeit in der operativen Gynäkologie und Geburtshilfe“ – nach der im Übrigen der Geburtshelfer primär für die Erstversorgung des Neugeborenen zuständig ist (s. dort unter 2.6) – wie in der anästhesiologischen Analyse schon zitiert – dass für geburtshilfliche Eingriffe stets ein Anästhesist verfügbar ist – und legt fest: „Die anzustrebende volle anästhesiologische Versorgung der geburtshilflichen Fachabteilung erfordert einen 24-stündigen Anästhesie-Bereitschaftsdienst an sieben Tagen in der Woche. Der hierfür benötigte, besonders auszuweisende Personalbedarf hängt von der jährlichen Geburtenzahl und dem Anteil der Anästhesieleistungen ab.“
 
Diese Anforderungen dürften so zu interpretieren sein, dass eine Dienstorganisation vorgehalten werden muss, die die Forderung der Geburtshelfer nach Gewährleistung einer E-E-Zeit von unter 20 Minuten bei der Sectio eingehalten werden kann. Soweit notwendig, sind auch die Einsatzzeiten der rufdienstleistenden Ärzte zu prüfen (zu den fachlich geforderten Einsatzzeiten im Rufdienst siehe „Entschließung zum Bereitschaftsdienst und zur Rufbereitschaft in der Anästhesie und in der Chirurgie“, dort unter Ziff. 2 [7]:
 
Ist der Anästhesist außerhalb der Regeldienstzeiten als Alleindiensttuender im Bereitschaftsdienst eingesetzt und ist nicht gewährleistet, dass ein rufdienstleistender Kollege innerhalb der gebotenen Zeit bei einer eventuellen Pflichtenkollision rechtzeitig vor Ort die Versorgung übernehmen kann, muss der diensttuende Anästhesist im konkreten Fall abwägen, wo er dringender benötigt wird. Im Grundsatz gilt aber, dass er mit der Übernahme der Versorgung „seines“ Patienten – hier also des Patienten in der Notfalloperation – Garant für dessen Sicherheit geworden ist. Das bedeutet, dass er zunächst einmal die Versorgung dieses Patienten zu gewährleisten und gegebenenfalls persönlich fortzusetzen hat. Kollidiert diese Verpflichtung mit einer anderen dringenden Anforderung, muss der Anästhesist prüfen, ob er ohne konkrete Gefährdung für diesen seinen Patienten verlassen, z.B. in einem Steady state die Überwachung „seines“ Patienten einer anderen qualifizierten Kraft überlassen werden kann. Die Forderung, dass für geburtshilfliche Eingriffe stets ein Anästhesist verfügbar sein muss heißt nicht, dass der evtl. einzig verfügbare Anästhesist stets zum Nachteil des begonnenen Eingriffs seinen Patienten dort „im Stich lassen“ darf.
 
Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Parallelverfahren zulässig sein können, hat die schon in der anästhesiologischen Analyse zitierte Entschließung des BDA zu „Zulässigkeit und Grenzen der Parallelverfahren in der Anästhesiologie“ Stellung bezogen. Doch es darf in keinem Fall dienstplanmäßig vorausgesetzt oder gar angeordnet werden, dass der Anästhesist stets von der laufenden Aufgabe abtritt und etwa zur Notfallsectio zu eilen hat. Denn ob dies vertretbar ist, kann nur im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller Umstände vom verantwortlichen Anästhesisten entschieden werden – und dieser könnte nach gewissenhafter, belastbarer Prüfung aller Umstände auch zu dem Ergebnis kommen, dass er wegen anders nicht abwendbarer konkreter Gefährdung seines Patienten für den geburtshilflichen Eingriff nicht zur Verfügung stehen kann.
 
Kommen dilemmatische Pflichtenkollisionen regelhaft vor, muss über eine andere Personalausstattung bzw. eine andere Organisation der Dienste nachgedacht werden.
 
Generell gilt: Soweit bei knappen personellen und/oder ökonomischen Ressourcen Kompromisse gesucht werden, dürfen diese die fachlich geforderten und damit rechtlich gebotenen (s. § 630a Abs. 2 BGB) Standards in den betreffenden Fachabteilungen nicht außer Acht lassen. Um dem Vorwurf eines Organisationsverschuldens mit möglichen zivil- aber auch strafrechtlichen Konsequenzen zu begegnen, werden sich diejenigen, die für die Diensteinteilung verantwortlich sind – die Verantwortlichen des Krankenhausträgers eingeschlossen – bei einem Zwischenfall rechtfertigen müssen, wie sie, wenn sie von den fachlich gebotenen Voraussetzungen abweichen und „improvisieren“, gleichwohl die Patientensicherheit gewährleistet haben. Auch dies hat die anästhesiologische Analyse bereits festgehalten.
 
Kompromisse dürfen die Patientensicherheit nicht konkret gefährden. „Hier ging die Sicherheit des Patienten allen anderen Gesichtspunkten vor; der gebotene Sicherheitsstandard durfte nicht etwaigen personellen Engpässen geopfert werden.“, so der Bundesgerichtshof (BGH, Urt. v. 30.11.1982; Az. VI ZR 77/81, S. 13).
 
Dass eine adäquate Personalausstattung nicht nur haftungs- sondern auch arbeitsrechtlich von Bedeutung ist, zeigt das Urteil des Arbeitsgerichts Wilhelmshaven, welches einem Chefarzt einen arbeitsrechtlichen Anspruch gegen den Krankenhausträger auf die Zurverfügungstellung der zur standardgemäßen Erfüllung der Aufgaben des Fachgebietes notwendigen Personalausstattung gegeben hat [8].
 
 

Take-Home-Message

  • Mit der Übernahme der Behandlung eines Patienten wird der Anästhesist zu dessen "Garanten" und hat bei diesem zu verbleiben. Wird er zu einem weiteren Notfall gerufen, so kann er diese Pflichtenkollision unter sorgfältiger Abwägung aller Umstände des Einzelfalles evtl. dadurch lösen, dass er die "Überwachung von Patient und Gerät" einer anderen qualifizierten Kraft übergibt. Keinesfalls darf aber eine solches „Parallelverfahren“ dienstplanmäßig angeordnet und zum Gegenstand der Personalplanung gemacht werden.
  • Die anästhesiologische Versorgung einer geburtshilflichen Fachabteilung erfordert „einen 24-stündigen Anästhesie-Bereitschaftsdienst an sieben Tagen in der Woche“, d.h. eine Dienstplanung, die die von den Geburtshelfern einzuhaltende E-E-Zeit garantiert. Der hierfür benötigte Personalbedarf ist besonders auszuweisen.
  • Ursachen von Zwischenfällen sind weniger in unerkannten Schwachstellen von Sicherheitsbarrieren („Schweizer Käse Modell“) zu finden, als vielmehr in einem langsamen Abgleiten eines Systems in Richtung der Grenze sicheren Arbeitens. Dies geschieht dadurch, dass Mitarbeiter versuchen Ressourcen- und Zielkonflikte durch flexibles Handeln auszubalancieren und auch unter ungünstigsten Rahmenbedingungen noch sicheres Handeln zu gewährleisten.


Weiterführende Literatur:
Autoren:
Priv.-Doz. Dr. med. M. St.Pierre, Anästhesiologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
Dr. iur. E. Biermann, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesisten, Nürnberg

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