Fall des Monats Quartal 4/2023 Drucken
05.03.2024

CIRSmedical Anästhesiologie - Berichten und Lernen

Verwechslung von Erythrozytenkonzentraten

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Der Fall:
(Aus Gründen der Anonymität wird im Folgenden bei Personen stets die männliche Bezeichnung verwendet.)
Verwechslung von Erythrozytenkonzentraten

Fallbeschreibung:
Verwechslung von Erythrozytenkonzentraten (Patient erhält beinahe EK eines anderen Patienten)

Wo sehen Sie die Gründe für dieses Ereignis und wie hätte es vermieden werden können?
Zeitdruck/Stress, Anästhesisten-Wechsel
Verbesserungsvorschlag: Betonung der Wichtigkeit des Bedside-Tests (hat in diesem Fall zumindest eine AB0-inkompatible Transfusion verhindert).
In Stress-Situation besser Kontrolle durch 2 Personen

Welche Faktoren trugen zu dem Ereignis bei?
Kommunikation (im Team, mit Patienten, mit anderen Ärzten etc.)
Ausbildung und Training
Organisation (zu wenig Personal, Standards, Arbeitsbelastung, Abläufe etc.)
Medikation (Medikamente beteiligt?)

Wie häufig tritt ein Ereignis dieser Art in Ihrer Abteilung auf?
nicht anwendbar

Wer berichtet?
Ärztin / Arzt, Psychotherapeut/in



Die Analyse aus Sicht der Interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft für klinische Hämotherapie (IAKH)

Problemanalyse
Leider liegt uns hier eine sehr spärliche Fallbeschreibung vor, bei der vieles unerwähnt bleibt und wenig Raum für Fehleranalysen und deshalb auch wenig Verbesserungspotenzial zulässt. Es ist erwähnt, dass sich eine Verwechslung der EKs ereignete, es aber nicht zur Transfusion gekommen ist ("…erhält beinahe EK…"). Wir gehen davon aus, dass sich das geschilderte Ereignis im OP im Beisein eines Anästhesieteams zutrug.
 
Wie genau der Sachverhalt war, ist aber unklar. Ob und wie der Fehler aufgedeckt wurde, ist fraglich, da einerseits berichtet wird, dass der Bedside-Test (BST) die gleiche Blutgruppe anzeigte, weiter unten in Klammern ausgesagt wird, der BST habe in diesem Fall die Fehltransfusion verhindert.
 
Es kann nun zweierlei vermutet werden:
 
  1. Dass der BST falsch ausgeführt oder fehlinterpretiert wurde. Die Blutprobe für den BST muss vom Patienten entnommen werden, nicht von der zu transfundierenden Konserve. Deren Blutgruppe erschließt sich im Allgemeinen aus dem Begleitschein und dem Etikett. Im Begleitschein ist ebenfalls das Ergebnis der serologischen Verträglichkeitstestung ("Kreuzprobe") ersichtlich. Wird aber das Blut von der Konserve selbst abgenommen, ist die Blutgruppe im BST und die auf der Konserve gleich, die vom Patienten kann aber im AB0-System abweichen.
  2. Es ist darüber hinaus möglich, dass der BST korrekt mit Blut des Patienten durchgeführt wurde, es sich aber um eine Konservenverwechslung und Fehlausgabe durch das Blutdepot bzw. des Immunhämatologischen Labors handelte, mit identischer Blutgruppe im Majorgruppen (AB0-)System, aber nicht korrektem Rhesusfaktor. Da eine Verwechslung im Rhesusbereich im gebräuchlichsten Fabrikat des BST nicht angezeigt wird (dieser testet nur AB), kann die Konserve vertauscht sein, aber der BST gleiches Ergebnis wie die Blutgruppe des Patienten anzeigen.
Die Konserve muss aber nicht unbedingt verwechselt worden sein, sondern kann bewusst inkompatibel im Rhesussystem ausgegeben worden sein. Oftmals wird bei Männern und Frauen nach dem geburtsfähigen Alter eine rhesusinkompatible Versorgung zugunsten der Bevorratung von rhesus-negativen Nullkonserven für Notfälle mit unbekannter Blutgruppe, aber sofortiger Transfusionspflicht vorgenommen. Allerdings sollte diese Taktik als machbares und damit gängiges Prozedere bekannt oder zumindest dem transfundierenden Arzt mitgeteilt werden.
 
Im ersten Fall handelt es sich um einen Fehler bei der Verabreichung der Blutkonserve, im zweiten ist ein Ausgabefehler/Kommunikationsfehler seitens der Blutbank, des immunhämatologischen Labors mit Blutdepot wahrscheinlich.
 
Die begünstigenden Umstände vieler Prozessfehler werden auch hier angeführt: Stress, Arbeiten unter Zeitdruck und Personalwechsel, Informationsverlust bei der Übergabe.
 
Folgende Leit- und Richtlinien und weitere Aspekte müssen beim Prozess, soweit in diesem Fall betroffen, berücksichtigt werden:
 
  • Zuordnungsprozess: Laut Querschnittsleitlinien Hämotherapie 2020 Kap. 4.10.3.1 [1] werden Erythrozytenkonzentrate blutgruppenidentisch, also AB0- und Rhesus-gleich transfundiert. Gemäß Kap. 4.9.2.1 muss neben der Identitätssicherung auch eine bettseitige Blutgruppenbestimmung durchgeführt werden. Das ist bei diesem Patienten offenbar durchgeführt worden. Leider sind nähere Angaben (wie der BST durchgeführt wurde, welche Blutgruppen Patient und Konserve hatten,...) nicht erwähnt.
  • Ausgabeprozess: Das Vorgehen im Labor/Blutdepot sollte mittlerweile flächendeckend scannerbasiert eine elektronische Depotverwaltung, digitale Dokumentation und Ausgabekontrolle beinhalten. Wurde hier tatsächlich noch eine analoge Fehlausgabe berichtet? Auch bei der analogen Ausgabe gilt das Vier-Augenprinzip, solange kein Scanner die Kontrolle übernimmt. Warum hatte diese in dem berichteten Fall nicht gegriffen?
  • Anwendungsprozess: Die ärztliche Kontrolle des Patientennamens und der Patientenblutgruppe im BST als auch der Begleitscheine und die Blutgruppe der Konserve wurden offensichtlich von der ärztlichen Kraft nicht zusammen mit der Blutgruppe der Plasmakonserve übereingebracht. Zur kompletten und korrekten Anwendung von Blutprodukten gehört eigentlich auch die Kontrolle des Konservenbegleitscheins sowie der Chargennummer (siehe Musterverfahrensanweisungen von IAKH [2] und BÄK [3], am besten im Vier-Augen-Prinzip (z.B. Pflege mit Arzt, nicht nur in Stresssituationen), wie in der Meldung angeregt.
  • Absicherung: Offensichtlich existiert in dieser Einrichtung noch kein technisches Absicherungssystem mit Scannern und einer begleitenden Software in Funktionsbereichen wie der Intensivstation und OP-trakt, in denen die Patienten bewusstlos und erschwert zu identifizieren sind. Ein solches elektronisches Softwaresystem zur Verhinderung von Patienten und Konservenverwechslungen wurde vom Arbeitskreis Blut (AK BLUT, ein Gremium des Bundesgesundheitsministerium am Robert-Koch-Institut) 2019 angeregt [4]. Eines der Systeme ist in England in den NHS Einrichtungen als "Blood Track" in der Anwendung, ein anderes Modell an der Charité in Erprobung [5]. Die Absicherung eines solch komplexen und von vielen Faktoren abhängigen Prozesses mit neusten Techniken erscheint mehr als sinnvoll [6].
  • Meldepflicht: Der Vorgang an sich wäre in mehrerer Hinsicht meldepflichtig gewesen, wenn es sich um eine stattgehabte Fehltransfusion, also eine echte Konservenverwechslung handelte. Erstens sind laut Richtlinie Hämotherapie [1] zunächst folgenlose Fehltransfusionen auch meldepflichtig (Kap.5.3.5, S. 77, Tabelle 5.3 erste Zeile), nämlich an den im QS-System der Einrichtung genannte Adressat (meist der Transfusionsverantwortliche). Zweitens ist die Verwechslung eines Arzneimittels eine Meldeverpflichtung bezüglich der Arzneimittelsicherheit meldepflichtig (EU-Recht [7]).
  • Struktur und Kommunikation: Der OP-Bereich ist immer eine stressanfällige Umgebung für das dort arbeitende Personal, weil Menschen in kritischen Situationen dort mit hoher Verantwortung im Team zusammenarbeiten. Abläufe, Personalstruktur und Kommunikation in einem solch kritischen Bereich und an den Schnittstellen ist deshalb besonders sorgfältig zu regeln. Die Personalstärke und Prozessökonomie sind von der Qualitätssicherung (QS) zu überprüfen, die SOPs/VAs niederzulegen und regelmäßig zu überprüfen und die Kommunikation gemäß den Empfehlungen der DGAI/BDA für den perioperativen Bereichen nach dem SBAR Prinzip [8] zu organisieren.
 
 
 
Prozessqualität:
  1. Fortbildung – alle Mitarbeiter: Blutgruppenkompatible Transfusion von Blutprodukten EK, TK und Plasma. Indikationsstellung und Verfahrensanweisung
  2. SOP/VA – Ärzte: Step-by-Step-Verfahren bei der Anwendung von Blutprodukten
  3. SOP/VA – OP, Anästhesie, Intensivmedizin: Einführung des Vier-Augen-Prinzips als Verpflichtung vor Anwendung von Konserven
  4. SOP/VA – Labor und IT: Ausgabe und Dokumentation von Blutkonserven im analogen oder digitalen Umfeld
  5. Fortbildung und SOP/VA – Labor an alle Mitarbeiter über den TV: Mitteilung der rhesusinkompatiblen Versorgung im Bedarfsfall
  6. Fortbildung und SOP/VA: Kommunikation an den Schnittstellen, bei Personalwechsel und Verfahrenswechsel: Einführung des SBAR-Prinzips
  7. M&M-Konferenz zum Fall
  8. Meldung an die EU, der im QS-System dafür vorgesehenen Person
  9. Meldung an die Transfusionskommission
 
 
 
Strukturqualität:
  1. TV, GF und QBH: Einrichtung einer Fortbildungsreihe, Verfahrensanweisungen und SOPs, Qualitätshandbuch Transfusionsmedizin
  2. Laborleiter, TV und IT: Verknüpfung und Einrichten von sinnvollen Plausibilitätsprüfungen mittels technischer Sannerbasierter Technologie (CAIROS, Blood Scan o.ä.).
  3. GF, ÄD, PDL, OP-Manager: Überprüfung der Personalstärke im OP
 
 
 
 
 

Take-Home-Message

  • Der Bedside-Test ist eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme, um AB0-inkompatible Fehltransfusionen zu verhindern, muss aber korrekt mit Empfängerblut ausgeführt und richtig interpretiert werden. Er kann nicht andere Prozessfehler, Rhesusinkompatible oder blutgruppenidentische Fehltransfusionen verhindern. Fehltransfusionen sind meldepflichtig, auch wenn sie anscheinend folgenlos sind.
  • Bewusst inkompatible Versorgungen sind Ausdruck der zunehmend engeren Versorgungslage. Rhesusinkompatible und blutgruppenidentische Versorgungen sind nicht optimal, aber im Engpass tolerabel. Die Anwender müssen jedoch bei diesen Spezialsituationen darüber von der beliefernden Blutbank informiert werden.
  • Zum einen muss der Ausgabeprozess im Blutdepot/Labor heutzutage zwingend und zum anderen sollte die Anwendung der Konserve am Patienten dringend technologisch abgesichert werden. Bei einer fehlenden technischen Ausstattung der Einrichtung ist die strikte Einhaltung des 4-Augen-Prinzips die wichtigste Maßnahme für Patienten- und Mitarbeitersicherheit.
  • Menschliche Fehler und Versäumnisse stellen, weil potenziell vermeidbar, die größte Chance zur Verbesserung dar. Beinahe-Fehler besitzen das größte Lernpotenzial und zeigen drohende Risiken an. Außer technischen Möglichkeiten zur Vermeidung von Irrtümern bieten Kommunikations- und Prozessstrukturen die häufigsten Möglichkeiten.


Weiterführende Literatur:
Abkürzungen:
ÄD - Ärztliche/r Direktor/in, EK - Erythrozytenkonzentrat, GF - Geschäftsführer/in, IT - Informationstechnik/er, PDL - Pflegedienstleitung, QBH - Qualitätsbeauftragter Hämotherapie, SOP - Stand Operating Procedure, TK - Thrombozytenkonzentrat, TV - Transfusionsverantwortlicher, VA - Verfahrensanweisung


Autoren:
Prof. Dr. med. T. Frietsch, 1. Vorsitzender der IAKH, Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie, Universitätsmedizin Mannheim
K. Ludwig, Wissenschaftliche Assistentin der IAKH, Auswertekommission des IAKH Fehlerregisters, Mannheim
Prof. Dr. med. A. Schleppers, Berufsverband Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten, Nürnberg
Dipl.-Sozialw. T. Rhaiem, Berufsverband Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten, Nürnberg

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