Paper of the Month #14 Drucken
10.12.2009

Stiftung für Patientensicherheit, Schweiz: "Merkmale selbst-berichteter ärztlicher Fehler in der Diagnostik"

Schiff GD, Hasan O, Seijeoung K et al.: Diagnostic error in medicine. Analysis of 583 Physician-Reported Errors. Archives of Internal Medicine 2009;169:1881-7.


Thema: Merkmale selbst-berichteter ärztlicher Fehler in der Diagnostik

Jeder therapeutischen Massnahme geht ein diagnostischer Prozess voraus, der den weiteren Verlauf der Patientenversorgung bestimmt. Diagnostische Fehler können schwerwiegende Kaskaden auslösen, die im schlimmsten Fall zu falschen oder unterlassenen Therapien führen. Fehler in der medizinischen Diagnose wurden bislang in der Patientensicherheit im Vergleich zu anderen Bereichen (z. B. Medikationsfehler) noch wenig untersucht. Dies ist auch dadurch zu erklären, dass die Diagnostik ein grundsätzlich mit Unsicherheit und Limitationen verbundener Prozess ist (Varianz in der Präsentation von Erkrankungen, Begrenztheit der Aussagekraft klinischer Untersuchungen, etc.). Schiff et al. untersuchten in ihrer Studie diagnostische Fehler, die als solche von Ärzten berichtet wurden. Dazu zählten Fehler innerhalb des diagnostischen Prozesses, die zu einer falschen Diagnose, einer fehlenden, oder einer verzögerten Diagnose führten. Ärzte verschiedener Krankenhäuser in den USA waren aufgefordert, in einem Fragebogen drei klinisch relevante diagnostische Fehler zu beschreiben, die sie beobachtet haben oder an denen sie selber beteiligt waren. Zu jedem Fehler wurden verschiedene Angaben erfragt, zum Beispiel zu den Ursachen, zu den Folgen und zur Häufigkeit. Die Berichte der Teilnehmer wurden durch zwei Kliniker beurteilt und alle Fälle ausgeschlossen, bei denen es sich offensichtlich nicht um diagnostische Fehler handelte. Die eingeschlossenen Fälle wurden in einem zweistufigen Verfahren anhand einer publizierten Klassifikation für diagnostische Fehler (DEER) eingeordnet. Insgesamt wurden von 283 teilnehmenden Ärzten aus 22 Institutionen 583 Fälle in die Studie eingeschlossen. In 28% der berichteten Fehler wurden ihre Folgen als schwerwiegend (Tod, bleibende Schädigung, lebensbedrohliches Ereignis) beurteilt. 8% der diagnostischen Fehler wurden durch die berichtenden Ärzte als "häufig" (mehrere Fälle im Monat gesehen), 35% als "gelegentlich" (einige Fälle im Jahr gesehen), 26% als "selten" (ein Fall innerhalb einiger Jahre gesehen) und 27% als "vereinzelt" (ein oder zwei Fälle insgesamt gesehen) eingeschätzt. Unter den berichteten Fällen waren die nicht diagnostizierte Lungenembolie (4.5%) und nicht diagnostizierte Arzneimittelreaktionen und –überdosierungen (4.5%) besonders häufig. 20% aller Fehler betrafen die Diagnose von Krebserkrankungen. Die Hauptprozessschritte, in denen es zu Fehlern kam, waren diagnostische Verfahren (Labor, radiolo­gische Untersuchungen) mit 44% aller Fälle und die klinische Beurteilung des Patienten (32%). In der ersten Gruppe waren "Ausbleiben/Verzögerung bei der Anforderung von diagnostischen Untersuchungen" sowie die "fehlerhafte Interpretation von Befunden" besonders häufig. Im Rahmen der klinischen Beurteilung des Patienten waren " Ausbleiben/Verzögerung der Diagnosestellung (Hypothesengenerierung)" und die "Überbewertung konkurrierender oder koexistierender Diagnose" besonders häufige Fehler. Die Autoren beschreiben auch interessante Kombinationen von Fehlern an verschiedenen Prozessschritten, die gehäuft miteinander auftraten. Die wichtigste Limitation der Studie ist, dass sie ausschliesslich die Selbstangaben der teilnehmenden Ärzte berücksichtigt. Die berichteten Fehler wurden nicht validiert, und es wurden keine zusätzlichen Informationen eingeholt. Die Studie gibt also primär Aufschluss über die Fehler, an die sich die teilnehmenden Ärzte erinnerten, die sie bereit waren zu berichten und für die sie die geforderten Angaben machen konnten. Die Studie zeigt jedoch deutlich, wie sich kognitive und systembezogene diagnostische Fehler in unterschiedlichen Prozessschritten zu Mustern oder Clustern zusammenfügen und ergänzen. Diagnostische Fehler stellen ein erhebliches Risiko für die Patientensicherheit dar. Durch Ärzte selbst-berichtete Erfahrungen mit diagnostischen Fehlern stellen ein wichtiges Potential dar und sollten verstärkt genutzt werden, um aus diesen Ereignissen zu lernen.

PD Dr. D. Schwappach, MPH
Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Patientensicherheit
Dozent am Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern


Link zum Abstract: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19901140


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Mit dem "Paper of the Month" möchte die Stiftung für Patientensicherheit eine interessante Dienstleistung für diejenigen Personen erbringen, die einerseits bei neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen up-to-date sein möchten, andererseits nicht über die Ressourcen verfügen, das gesamte Feld zu beobachten. Die Stiftung für Patientensicherheit stellt etwa alle vier Wochen eine aktuelle wissenschaftliche Studie zur Patientensicherheit und ihre Kernergebnisse vor. Sie wählt dafür internationale Studien aus, die einerseits eine hohe Qualität aufweisen und die sie andererseits subjektiv als wichtig beurteilt, zum Beispiel aufgrund einer wichtigen Fragestellung oder einer innovativen Methodik.

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