Paper of the Month #73 Drucken
05.06.2018

Stiftung für Patientensicherheit, Schweiz: Paper of the Month #73 – (Beinahe-) Zwischenfälle in der pädiatrischen Chirurgie: Unterberichtet und unterschätzt?

Hamilton EC, Pham DH, Minzenmayer AN, Austin MT, Lally KP, Tsao K, Kawaguchi AL:
Are we missing the near misses in the OR? - underreporting of safety incidents in pediatric surgery
Journal of Surgical Research, 2018. doi: 10.1016/j.jss.2017.08.005

Thema: (Beihnahe-) Zwischenfälle in der pädiatrischen Chirurgie: Unterberichtet und unterschätzt?

Freiwillige Meldesysteme für Zwischenfälle wie das CIRS sind typischerweise von einem starken underreporting gekennzeichnet. Viele Zwischenfälle werden gar nicht in solche Systeme gemeldet. Beinahe-Ereignisse („near miss“) sind Vorkommnisse, die ein grosses Potential für eine Patientenschädigung haben, aber im letzten Moment noch knapp abgewendet wurden, z.B. durch aufmerksame Mitarbeitende. Kenntnisse über solche Beinahe-Ereignisse sind für Organisationen besonders wertvoll, da ihnen die gleiche Kaskade und Konstellation vorausgeht wie unerwünschten Ereignissen, die zu einer Schädigung geführt haben. So kann man analysieren, ob eine andere Sicherheitsbarriere das Ereignis schon früher im Prozess hätte abfangen können. Gleichzeitig können Beinahe-Zwischenfälle auch aufzeigen, dass eine gesetzte Barriere – wenn auch spät – funktioniert hat, zum Beispiel eine letzte Kontrolle. Leider ist anzunehmen, dass es auch für Beinahe-Zwischenfälle ein massives underreporting gibt.
Hamilton et al. untersuchten dies in einem Kinderspital in den USA. Für die chirurgische Abteilung existierten zwei freiwillige Berichtssysteme: Das spitalweite elektronische Meldesystem (ähnlich CIRS) sowie ein spezifisches für den perioperativen Bereich. In diesem waren Mitarbeitende gebeten, für alle Vorkommnisse eine kurze handschriftliche Meldung abzugeben. Dieses System war von den Mitarbeitenden initiiert worden und Meldungen werden auch von Fachpersonen aus dem perioperativen Bereich regelmäs-sig bearbeitet. Zusätzlich zu diesen beiden etablierten Gefässen wurden in der Studie Beobachtungen im Operationssaal durchgeführt. Alle sicherheitsrelevanten Ereignisse wurden durch BeobachterInnen mit einem standardisierten Erhebungsinstrument erfasst. Über einen Zeitraum von 6 Wochen wurde ein Viertel aller Operationen beobachtet, nämlich 211 der 830 durchgeführten Eingriffe. Die erfassten Ereignisse („Abweichungen“) beinhalteten unerwünschte Ereignisse (mit Schädigung), Beinahe-Ereignisse (ohne Schädigung), abgefangen durch „Glück“ oder durch eine Sicherheitsbarriere, und indirekt-sicherheitsbezogene Ereignisse, wie zum Beispiel das Fehlen von Material und Equipment im OP. Die registrierten Eingriffe wurden klassifiziert und mit den Ereignissen verglichen, die – bezogen auf die 211 Eingriffe – in den freiwilligen Meldesystemen berichtet worden waren.
Die BeobachterInnen registrierten während 211 Eingriffen insgesamt 137 Abweichungen. Im handschriftlichen peri-operativen Meldesystem wurden 57 Ereignisse für alle Operationen im gleichen Zeitraum berichtet, im spitalweiten CIRS 8 Ereignisse. Dies entspricht einer Rate von 65 Abweichungen/100 Eingriffe, die durch Beobachtung erfasst wurden, 7 Abweichungen/100 Eingriffe, die durch das handschriftliche perioperative Meldesystem und 1 Abweichung/100 Eingriffe, die durch das CIRS erfasst wurden. Von den 137 beobachteten Ereignissen waren 72 (52%) Beinahe-Ereignisse. Die von den BeobachterInnen am häufigsten festgestellten Abweichungen waren inkorrekte/unvollständige Durchführung der chirurgischen Checkliste sowie intraoperative Probleme mit dem Equipment. Zwischen den drei Methoden gab es praktisch keine Übereinstimmung in den gemeldeten Ereignissen. Von den insgesamt 7 unerwünschten Ereignissen waren 5 beobachtet worden und 2 im perioperativen Meldesystem erfasst.
Die Arbeit von Hamilton et al. hat einige Limitationen. Sie fand nur in einem Spital und über einen begrenzten Zeitraum statt. Es ist auch unklar, wie breit das Spektrum der beobachteten Ereignisse ist. So ist es möglich, dass ein Ereignis sehr häufig auftritt (z.B. die gleichen Probleme mit einem bestimmten Gerät) und häufig beobachtet wurde. Das gleiche Ereignis mag auch einmalig - quasi prototypisch – in die freiwilligen Meldesysteme gemeldet worden sein. Wäre dies der Fall, dann wären die freiwilligen Systeme repräsentativ für die Beobachtung, nur die Häufigkeit des Auftretens wäre verzerrt. Es ist jedoch unwahrschein-lich, dass dieses Phänomen den grossen Unterschied in der Anzahl Meldungen erklären kann. Es ist vielmehr nahe-liegend, dass die von dezidierten BeobachterInnen re-gistrierten Ereignisse eben andere sind, als diejenigen, die von den direkt involvierten Mitarbeitenden wahrgenommen und berichtet werden.
Die Studie zeigt deutlich den Wert von Beobachtungen, um die Häufigkeit von perioperativen unerwünschten Ereignis-sen, aber besonders von Beinahe-Ereignissen zu bestim-men. Mehr als die Hälfte der beobachteten Ereignisse wa-ren Beinahe-Ereignisse, für die es ausser der Beobachtung keine zuverlässige Erhebungsform gibt. Da sie keine Schädigung verursachen, werden sie auch nicht in der Pa-tientenakte dokumentiert. Ohne direkte Beobachtung geht dann eine wichtige Lernressource für Spitäler verloren.

Prof. Dr. D. Schwappach, MPH
Leiter Forschung und Entwicklung von Patientensicherheit Schweiz und Dozent am Institut für Sozial und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern

(Den Volltext können wir aus Copyright Gründen leider nicht mit versenden).

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