Paper of the Month #75 Drucken
09.07.2018

Stiftung für Patientensicherheit, Schweiz: Paper of the Month #75 – Automatischer Interaktionen-Check: Wer klickt welche Warnung weg?

Cho I, Lee Y, Lee J-H, Bates DW: Wide variation and patterns of physicians’ responses to drug-drug interaction alerts International Journal for Quality in Health Care, 2018. doi: 10.1093/intqhc/mzy102

Thema: Automatischer Interaktionen-Check: Wer klickt welche Warnung weg?

Ein grosser Vorteil von elektronischen Verordnungssystemen liegt in der automatisierten Prüfung auf mögliche Interaktionen von Arzneimitteln. Typischerweise erhalten Ärztinnen und Ärzte bei einer potentiellen Interaktion dann eine Warnmeldung. In der Folge kann die Verordnung angepasst werden oder die Warnmeldung übergangen werden (override). Ein override kann berechtigt sein, weil die potentielle Interaktion im speziellen Fall nicht relevant ist oder der Nutzen der Verordnung das Risiko überwiegt. Der automatische Interaktionen-Check ist grundsätzlich eine wichtige Hilfestellung. Allerdings kann eine Flut an Warnmeldungen zu einer De-Sensibilisierung führen, die in einem systematischen override mündet – es werden einfach alle Warnungen übergangen. Typischerweise wird angenommen, dass je mehr unspezifische und damit wenig hilfreiche Warnmeldungen ein(e) Arzt/Ärztin erhält, umso eher wird die Person diese Warnmeldungen übergehen. In welchem Zusammenhang die Frequenz von Warnmeldungen und das Reaktionsverhalten der verordnenden Ärztinnen und Ärzte aber genau stehen, ist relativ wenig bekannt. Cho et al. werteten die Verordnungsmuster von 560 Ärztinnen und Ärzten über einen Zeitraum von 4 Monaten in einem südkoreanischen Krankenhaus aus. In der dort eingesetzten Verordnungssoftware lösten 706 Arzneimittelkombinationen (77 Arzneimittelklassen-Kombinationen) Warnmeldungen aus. Sie verwendeten dabei die Log-Dateien aller Verordnungen und Warnmeldungen. Diese Daten kombinierten sie mit den Merkmalen der verordnenden Ärztinnen und Ärzte, z.B. ihre Erfahrungsstufe oder die Verordnungsfrequenz. Zusätzlich analysierten sie anhand einer Zufallsstichprobe von übergangenen Warnmeldungen (n=253) und den dazugehörigen Patientenakten den klinischen Kontext und die Angemessenheit der overrides. Insgesamt wurden im Beobachtungszeitraum (4 Monate) 18‘360 Warnmeldungen ausgelöst, von denen 13‘155 übergangen wurden (72%). Die Anzahl der Warnmeldungen und deren Varianz waren höher bei Assistenzärztinnen/-ärzten als bei Fachärztinnen/-ärzten, während Fachärztinnen/-ärzte die Warnungen häufiger übergangen. Es gab keinen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Warnmeldungen und der Rate der übergangenen Warnmeldungen. Anhand der medianen Anzahl von Warnmeldungen je Arzt (18) und der durchschnittlichen override-Rate (70%) konnten die Ärztinnen/Ärzte in vier Quadranten klassifiziert werden: 1-unerfahrene unvorsichtige Personen (überdurchschnittliche Anzahl Warnmeldungen, überdurchschnittliche override Rate); 2-unerfahrene vorsichtige Personen (überdurchschnittliche Anzahl Warnmeldungen, unterdurchschnittliche override Rate); 3-erfahrene vorsichtige Personen (unterdurchschnittliche Anzahl Warnmeldungen, unterdurchschnittliche override Rate); 4-erfahrene unvorsichtige Personen (unterdurchschnittliche Anzahl Warnmeldungen, überdurchschnittliche override Rate). In der Gruppe 2 (unerfahrene vorsichtige Personen) waren 92% der so klassifizierten Personen Assistenzärztinnen und –ärzte. In dieser Gruppe lagen die Anzahl der Warnmeldungen bei knapp 97 und die override-Rate bei 55%. In der Gruppe 4 hingegen (erfahrene unvorsichtige Personen) waren nur 54% Assistenzärztinnen/-ärzte und 46% Fachärztinnen/-ärzte. Hier waren die durchschnittliche Anzahl Warnungen 6 und die override Rate 94%. Es gab deutliche Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit der Warnmeldungen und der override-Rate und dem jeweiligen medizinischen Department. Beispielsweise lösten die Verordnungen in der Herzchirurgie recht viele Warnmeldungen aus, die durchschnittlich häufig übergangen wurden. Dahingegen gab es in der Anästhesie und Schmerzmedizin selten Warnmeldungen, die aber sehr häufig übergangen wurden. Ein erheblicher Anteil der Warnmeldungen (89%) konzentrierte sich auf nur 5 der 77 geprüften Arzneimittelklassen-Kombinationen. Der relative Anteil der nach Prüfung als „angemessen“ bewerteten übergangenen Warnmeldungen variierte stark je nach Arzneimittelklasse. So war das Übergehen einer Warnmeldung bezogen auf QT-prolongierende Substanzen mit Beta-Adrenozeptor-Antagonisten/ Amphetaminen und Derivaten in 75% angemessen; unter den Warnmeldungen, die sich auf nicht steroidale Antirheumatika mit ebensolchen bezogen, wurden das Übergehen nur in 15% als angemessen bewertet. Die Analyse von Cho et al. bestätigt, dass es eine grosse Variation in der Produktion und im Übergehen von Warnmeldungen gibt. Diese Variation entsteht auf Ebene der Arzneimittelklasse und den implementierten Algorithmen, auf Ebene der medizinischen Disziplinen und auf Ebene der individuellen Ärztinnen/Ärzte. Um eine Optimierung des automatischen Interaktionen-Checks zu erreichen, sind Interventionen auf allen drei Ebenen sinnvoll. Die Studie zeigt auch, wie nützlich die Analyse von Logs ist, um das Phänomen der Alarm-Müdigkeit besser zu verstehen.

Prof. Dr. D. Schwappach, MPH
Leiter Forschung und Entwicklung von Patientensicherheit Schweiz und Dozent am Institut für Sozial und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern

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